„Diskussion:Johannes Calvin“ – Versionsunterschied
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Im Anhang die überarbeitete Version meiner Textspende zu Calvins Theologie. Gruß Martin Wolfangel |
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Calvins Theologie |
Calvins Theologie |
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Calvin war als Reformator der zweiten Generation theologisch von Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer beeinflusst. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio Christianae religionis" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah er ganz Europa. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz und unterrichtete Tausende Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 gegründete Akademie in Genf kamen ( |
Calvin war als Reformator der zweiten Generation theologisch von Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer beeinflusst. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio Christianae religionis" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah er ganz Europa. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz und unterrichtete Tausende Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 gegründete Akademie in Genf kamen.<ref>Karl Heussi: ''Kompendium der Kirchengeschichte'', 11. Aufl. (1957), S. 323 ff</ref> |
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Calvin traf in Genf auf eine weithin paganisierte (neuheidnische) Gesinnung. Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging. Nach seiner Auffassung gewinnt der Mensch zwar aus der Betrachtung von Natur, Geschichte und seiner selbst eine gewisse Gotteserkenntnis, aber er ist zugleich Sünder, der fern von Gott ist. Deshalb ist er darauf angewiesen, dass Gott sich ihm durch sein Wort, in dessen Zentrum Christus steht, zu erkennen gibt. Dies geschieht sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, wenn auch auf verschiedene Art und Weise (Luthers sola scriptura, allein die Schrift). Calvin fogt dem Kirchenvater Augustin in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur dieser selbst überwinden kann. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebt durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenkt dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. (Calvin denkt streng trinitarisch.) Damit ist der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). "Das Leben im Glauben ist nach Calvin gekennzeichnet durch Buße, Selbstverleugnung, Gebet, Betrachtung des zukünftigen Lebens und steht in allem" unter der christlichen Freiheit |
Calvin traf in Genf auf eine weithin paganisierte (neuheidnische) Gesinnung. Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging. Nach seiner Auffassung gewinnt der Mensch zwar aus der Betrachtung von Natur, Geschichte und seiner selbst eine gewisse Gotteserkenntnis, aber er ist zugleich Sünder, der fern von Gott ist. Deshalb ist er darauf angewiesen, dass Gott sich ihm durch sein Wort, in dessen Zentrum Christus steht, zu erkennen gibt. Dies geschieht sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, wenn auch auf verschiedene Art und Weise (Luthers sola scriptura, allein die Schrift). Calvin fogt dem Kirchenvater Augustin in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur dieser selbst überwinden kann. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebt durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenkt dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. (Calvin denkt streng trinitarisch.) Damit ist der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). "Das Leben im Glauben ist nach Calvin gekennzeichnet durch Buße, Selbstverleugnung, Gebet, Betrachtung des zukünftigen Lebens und steht in allem" unter der christlichen Freiheit.<ref group="O" name="Weber S. 1596">S. 1596</ref> |
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Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Dieses ist wirksames Zeichen. In ihm ist Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig und wirksam ("Spiritualpräsenz") |
Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Dieses ist wirksames Zeichen. In ihm ist Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig und wirksam ("Spiritualpräsenz").<ref group="O" name="Weber S. 1598">S. 1598</ref> Die Predigt hat sakramentalen Charakter, denn sie macht den Glaubenden der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig (Luther: Fides ex auditu, der Glaube kommt aus dem Hören.<ref>Vgl. Ernst Bizer: Fides ex Auditu (1958). (Zu Luthers reformatorischer Entdeckung)</ref> Calvin konnte sich mit dem Wunsch, das Abendmahl mehrmals im Monat zu feiern, nicht gegen den Rat der Stadt Genf durchsetzen. Es wurde daraufhin viermal im Jahr gefeiert. Das Innere der Kirchen war betont schlicht gehalten, um die Menschen nicht vom Wesentlichen - Schriftlesung, Predigt, Gebet, gemeinsames Singen - abzulenken. Calvin förderte das Kirchenlied, hauptsächlich Psalmen, die in Strophen- und Versform gebracht und vertont wurden.<ref>Karl Heussi: ''Kompendium der Kirchengeschichte'', 11. Aufl. (1957), S. 324</ref> |
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Calvins Prädestinationslehre betont, dass der Glaube Gottes unverdientes Geschenk ist (sola gratia, allein aus Gnade). Gottes freie Gnadenwahl ist sein Geheimnis. Gewissheit der Erwählung findet der Mensch nicht in sich selbst, sondern allein im Blick auf Jesus Christus. Trotz seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über Gottes Willen erlag Calvin doch dieser Versuchung, indem er als logisches Gegenstück zur Erwählung der einen Menschen die Verdammnis der anderen lehrte ("doppelte Prädestination") |
Calvins Prädestinationslehre betont, dass der Glaube Gottes unverdientes Geschenk ist (sola gratia, allein aus Gnade). Gottes freie Gnadenwahl ist sein Geheimnis. Gewissheit der Erwählung findet der Mensch nicht in sich selbst, sondern allein im Blick auf Jesus Christus. Trotz seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über Gottes Willen erlag Calvin doch dieser Versuchung, indem er als logisches Gegenstück zur Erwählung der einen Menschen die Verdammnis der anderen lehrte ("doppelte Prädestination").<ref group="O" name="Weber S. 1596"/> |
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Die Kirche ist für Calvin die "Mutter" der Glaubenden. Denn in der Kirche begegnen ihnen die Predigt des Wortes Gottes und die Sakramente. Calvin war es wichtig, dass die Kirche von den weltlichen Obrigkeiten unabhängig ist. In seiner Kirchenordnung (1541) führte er nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Kirchenleitung. Weitere Ämter hatten die Lehrer (doctores) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten ( |
Die Kirche ist für Calvin die "Mutter" der Glaubenden. Denn in der Kirche begegnen ihnen die Predigt des Wortes Gottes und die Sakramente. Calvin war es wichtig, dass die Kirche von den weltlichen Obrigkeiten unabhängig ist. In seiner Kirchenordnung (1541) führte er nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Kirchenleitung. Weitere Ämter hatten die Lehrer (doctores) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten.<ref name="Heussi, S. 325">Karl Heussi: ''Kompendium der Kirchengeschichte'', 11. Aufl. (1957), S. 325</ref> |
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Calvin übte eine strenge Kirchenzucht aus. Ihre Härte wurde nicht unwesentlich durch die großen Flüchtlingsströme verursacht. Zu den rund 10.000 Einwohnern von Genf kamen innerhalb von 30 Jahren etwa 15.000 Flüchtlinge hinzu, zumeist Hugenotten. Diese 25.000 Menschen mussten geeint werden und Orientierung erfahren. Der Betroffene sollte die Kirchenzucht nicht als Strafe, sondern als Hilfe verstehen. Die Maßnahmen reichten je nach Schwere des Falles von Ermahnung bis zu Verbannung und Hinrichtung |
Calvin übte eine strenge Kirchenzucht aus. Ihre Härte wurde nicht unwesentlich durch die großen Flüchtlingsströme verursacht. Zu den rund 10.000 Einwohnern von Genf kamen innerhalb von 30 Jahren etwa 15.000 Flüchtlinge hinzu, zumeist Hugenotten. Diese 25.000 Menschen mussten geeint werden und Orientierung erfahren. Der Betroffene sollte die Kirchenzucht nicht als Strafe, sondern als Hilfe verstehen. Die Maßnahmen reichten je nach Schwere des Falles von Ermahnung bis zu Verbannung und Hinrichtung. <ref group="J">S. 209</ref><ref name="Heussi, S. 325" /> Calvin war aber kein Wegbereiter moderner totalitärer Regimes. Denn es gab in Genf keine massenweise Einkerkerung, Folter und Tötung Andersdenkender. Calvin war in tiefer Sorge wegen der harten Verfolgung seiner hugenottischen Landsleute und der Waldenser in Südfrankreich, die sich der Reformation angeschlossen hatten. Katholiken wurden in Genf nicht eingekerkert oder hingerichtet. Anders als die katholische Kirche sowie manche Lutheraner und Reformierte lehnte Calvin auch die Hinrichtung von Täufern ab.<ref>Heinrich Bornkamm: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), S. 939</ref> |
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Calvin setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545-63) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen |
Calvin setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545-63) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen.<ref group="O">S. 1597</ref> |
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Der konkrete Lebensvollzug des Christen geschieht insbesondere im Beruf, wo er mit dem Nächsten verbunden ist und ihm dient. Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sind dem Menschen "eingeboren". Wie sich Calvin bei der Gotteserkenntnis der natürlichen Theologie nähert so in der Ethik naturrechtlichen Gedankengängen, ohne in beiden Fällen daraus eine explizite Lehre zu machen |
Der konkrete Lebensvollzug des Christen geschieht insbesondere im Beruf, wo er mit dem Nächsten verbunden ist und ihm dient. Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sind dem Menschen "eingeboren". Wie sich Calvin bei der Gotteserkenntnis der natürlichen Theologie nähert so in der Ethik naturrechtlichen Gedankengängen, ohne in beiden Fällen daraus eine explizite Lehre zu machen.<ref group="O">S. 1594</ref> Diese rudimentären ethischen Vorstellungen werden durch die Zehn Gebote und das christliche Liebesgebot bestätigt und verstärkt (sozialethische Prinzipien). Daraus folgt für Calvin, dass eine Reihe von Rechten unantastbar sind und allen staatlichen Gesetzen zugrunde gelegt werden müssen. "Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Bekenntnisfreiheit für den wahren schriftgemäßen Glauben, auf persönliche Freiheit (...), auf das persönliche Leben und Eigentum, auf Wahrung der natürlichen Ungleichheit gegen allen gleichmacherischen Zwang bei aller Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott und dem Gesetz" (Jan Weerda). Diese Freiheitsrechte berechtigen jedoch nicht zu individualistischer Eigenmächtigkeit, vielmehr müssen sie der Gemeinschaft dienen.<ref group="J">S. 209 f</ref> |
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Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Die Regierenden sind "Stellvertreter" Gottes und ihre Aufgabe ist es, "den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit" durch Gesetze und Rechtsprechnung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin ist der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lässt. Er hält aber eine Art konstitutionelle Aristokratie für die beste Regierungsform. "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen" |
Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Die Regierenden sind "Stellvertreter" Gottes und ihre Aufgabe ist es, "den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit" durch Gesetze und Rechtsprechnung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin ist der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lässt. Er hält aber eine Art konstitutionelle Aristokratie für die beste Regierungsform. "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen".<ref group="J">Zitiert bei Weerda, S. 210</ref> Das Volk ist zum Kriegsdienst in gerechten Verteidigungskriegen verpflichtet. Es muss auch Tyrannen erdulden. Diese zu stürzen ist Recht und Pflicht der niederen Obrigkeiten (z.B. Adel, Stände). Nur im Grenzfall ist Widerstandsrecht auch für den Einzelnen erlaubt, nämlich dann, wenn die Obrigkeit Ungehorsam gegen Gott befiehlt.<ref group="J" name="Weerda S. 211">S. 211</ref><ref group="O" name="Weber S. 1598" /> |
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Staat und Kirche sind getrennt, obwohl beide zum Wohl der Menschen zusammenwirken müssen. Eine christliche Obrigkeit hat dafür zu sorgen, dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann. Im Extremfall muss die Obrigkeit gefährliche Irrlehrer verbannen oder hinrichten. Sie darf jedoch nicht die Übernahme des evangelischen Glaubens zu erzwingen versuchen |
Staat und Kirche sind getrennt, obwohl beide zum Wohl der Menschen zusammenwirken müssen. Eine christliche Obrigkeit hat dafür zu sorgen, dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann. Im Extremfall muss die Obrigkeit gefährliche Irrlehrer verbannen oder hinrichten. Sie darf jedoch nicht die Übernahme des evangelischen Glaubens zu erzwingen versuchen.<ref group="J" name="Weerda S. 211"/> |
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Die Landwirtschaft setzte Calvin als selbstverständliche wirtschaftliche Betätigung voraus. Handel und Geldgeschäfte beurteilte er großzügiger als Luther, obwohl er wie dieser Wucherzinsen und andere Formen der Preistreiberei entschieden verurteilte. Notfalls haben die Obrigkeiten regulierend einzugreifen. Das Zinsnehmen ist erlaubt. Vermögen und Kapital sind Geld gewordene Arbeit. Wie Luther verstand Calvin Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten sie ab, da sie diese als nicht im Neuen Testament bezeugt sahen. Sie verwarfen Müßiggang und Betteln. Der Gedanke, wirtschaftlichen Erfolg bzw. die Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung als Zeichen göttlicher Erwählung zu verstehen, spielte bei Calvin nur am Rande eine Rolle. Er gewann erst in späteren, sich verweltlichenden Formen des Calvinismus wachsende Bedeutung und wurde so zum Ausgangspunkt für Max Webers Thesen zur Entstehung des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904) |
Die Landwirtschaft setzte Calvin als selbstverständliche wirtschaftliche Betätigung voraus. Handel und Geldgeschäfte beurteilte er großzügiger als Luther, obwohl er wie dieser Wucherzinsen und andere Formen der Preistreiberei entschieden verurteilte. Notfalls haben die Obrigkeiten regulierend einzugreifen. Das Zinsnehmen ist erlaubt. Vermögen und Kapital sind Geld gewordene Arbeit. Wie Luther verstand Calvin Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten sie ab, da sie diese als nicht im Neuen Testament bezeugt sahen. Sie verwarfen Müßiggang und Betteln. Der Gedanke, wirtschaftlichen Erfolg bzw. die Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung als Zeichen göttlicher Erwählung zu verstehen, spielte bei Calvin nur am Rande eine Rolle. Er gewann erst in späteren, sich verweltlichenden Formen des Calvinismus wachsende Bedeutung und wurde so zum Ausgangspunkt für Max Webers Thesen zur Entstehung des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904)).<ref group="J" name="Weerda S. 211"/> Diese sind heute aber umstritten. Eine Vielzahl protestantischer Institutionen, denen Weber eine entscheidende Rolle im Prozess der Industrialisierung beimisst, bestanden bereits auf säkularer Ebene.<ref>Vgl. Samuelson 1993, Tawney 1926</ref> Empirische Ergebnisse zeigen, dass in vielen der von Weber angeführten Regionen kein Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Protestantismus besteht. Beispielsweise lag Amsterdams Wohlstand weitgehend in katholischer Hand. Katholisch dominiert war auch das früh industrialisierte Rheinland (vgl. dazu Delacroix 1996). Allerdings sind die wirtschaftlichen (und politischen) Unterschiede zwischen dem katholisch geprägten Lateinamerika und dem protestantisch dominierten Nordamerika stark ausgeprägt und ohne konfessionell bedingte Verhaltensmuster nicht zu erklären. |
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Für die Reformatoren folgte aus der von Gott geschenkten Erlösung eine Lebensführung, die ihrer Auffassung nach Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus. Dies hatte zur Folge, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Machinen und Herstellungsmethoden investiert werden konnten. Auf diese Weise stärkten sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die Calvin hoch einschätzte, wechselseitig. Dies führte - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerksmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden mussten, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls wäre der Wirtschaftskreislauf zusammengebrochen. Gleichzeitig ermöglichten vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben es dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern ( |
Für die Reformatoren folgte aus der von Gott geschenkten Erlösung eine Lebensführung, die ihrer Auffassung nach Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus. Dies hatte zur Folge, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Machinen und Herstellungsmethoden investiert werden konnten. Auf diese Weise stärkten sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die Calvin hoch einschätzte, wechselseitig. Dies führte - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerksmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden mussten, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls wäre der Wirtschaftskreislauf zusammengebrochen. Gleichzeitig ermöglichten vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben es dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern.<ref>E. Heimann: Kapitalismus. In: RGG, 3. Aufl., Bd. III (1959), S. 1136</ref> |
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Die Allmacht Gottes, die der Mensch nach Calvins Überzeugung im Glauben erfährt, lähmt ihn nicht. Im Gegenteil, sie gibt dem Glaubenden Selbstvertrauen und setzt ihn in Bewegung, wissend, dass alles Bemühen, Gottes Willen in der Welt zu verwirklichen, Stückwerk bleibt, aber der Vollendung durch Gott entgegengeht |
Die Allmacht Gottes, die der Mensch nach Calvins Überzeugung im Glauben erfährt, lähmt ihn nicht. Im Gegenteil, sie gibt dem Glaubenden Selbstvertrauen und setzt ihn in Bewegung, wissend, dass alles Bemühen, Gottes Willen in der Welt zu verwirklichen, Stückwerk bleibt, aber der Vollendung durch Gott entgegengeht.<ref group="J">S. 211 f</ref> |
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Wie Calvin die kirchliche "Überlieferung in das reformatorische Denken hineinnimmt und ihm gemäß umformt, so öffnet sich ihm auf der anderen Seite vermöge der europäischen Weite seines Gesichtsfeldes die werdende moderne Welt, die er durch seine Theologie maßgebend mitgestaltet hat. (...) Calvins Theologie hat ihre Kraft vor allem in der Verbindung gedanklicher Schärfe und praktisch-ethischer Gestaltbildung entfaltet und weit über die reformierten Kirchen hinaus gewirkt" |
Wie Calvin die kirchliche "Überlieferung in das reformatorische Denken hineinnimmt und ihm gemäß umformt, so öffnet sich ihm auf der anderen Seite vermöge der europäischen Weite seines Gesichtsfeldes die werdende moderne Welt, die er durch seine Theologie maßgebend mitgestaltet hat. (...) Calvins Theologie hat ihre Kraft vor allem in der Verbindung gedanklicher Schärfe und praktisch-ethischer Gestaltbildung entfaltet und weit über die reformierten Kirchen hinaus gewirkt".<ref group="O">S. 1594 und 1598</ref> |
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3. Heussi, S. 323 ff |
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4. Weber, Sp. 1596 |
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5. Weber, Sp. 1598 |
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6. Vgl. Bizer, Ernst: Fides ex Auditu (1958). (Zu Luthers reformatorischer Entdeckung) |
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7. Heussi, S. 324 |
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8. Weber, Sp. 1596 |
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9. Heussi, S. 325 |
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10. Weerda, Sp. 209; Heussi, S. 325 |
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11. Bornkamm, Sp. 939 |
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12. Weber, Sp. 1597 |
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13. Weber, Sp. 1594 |
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14. Weerda, Sp. 209 f |
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15. Zitiert bei Weerda, Sp. 210 |
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16. Weerda, Sp. 211; Weber, Sp. 1598 |
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17. Weerda, Sp. 211 |
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18. Vgl. Samuelson 1993, Tawney 1926 |
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19. Heimann, Sp. 1136 |
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20. Weerda, Sp. 211 f |
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21. Weber, Sp. 1594, 1598 |
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* Otto Weber: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), S. 1593-1599 |
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* Jan Weerda: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), S. 207-212 |
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* Bornkamm, Heinrich: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), Sp. 933-946 |
* Bornkamm, Heinrich: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), Sp. 933-946 |
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* Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957) |
* Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957) |
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* Weber, Otto: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), Sp. 1593-1599 |
* Weber, Otto: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), Sp. 1593-1599 |
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* Weerda, Jan: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), Sp. 207-212 |
* Weerda, Jan: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), Sp. 207-212</div> |
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--~~ <small>(''nicht [[Hilfe:Signatur|signierter]] Beitrag von'' [[Benutzer:Martin Wolfangel|Martin Wolfangel]] ([[Benutzer Diskussion:Martin Wolfangel|Diskussion]] | [[Spezial:Beiträge/Martin Wolfangel|Beiträge]]) 16:38, 31. Mär. 2010 (CEST)) </small> |
--~~ <small>(''nicht [[Hilfe:Signatur|signierter]] Beitrag von'' [[Benutzer:Martin Wolfangel|Martin Wolfangel]] ([[Benutzer Diskussion:Martin Wolfangel|Diskussion]] | [[Spezial:Beiträge/Martin Wolfangel|Beiträge]]) 16:38, 31. Mär. 2010 (CEST)) </small> |
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:Hallo, bei dem Artikel über den Calvinismus müsste man wirklich was machen. Jedoch erstmal zur Textspende für den Calvin Artikel: Ich habe die Einzelnachweise nun einmal sortiert und die von Weber und Weerda in Gruppen einsortiert. -- [[Benutzer:++gardenfriend++|++gardenfriend++]] <sup><small>[[Benutzer Diskussion:++gardenfriend++|Disk.]]</small></sup> <small>[[Wikipedia:Gesichtete Versionen/Nachsichtung|Mach mit!]]</small> 17:07, 2. Apr. 2010 (CEST) |
Version vom 2. April 2010, 16:07 Uhr
Name
ich fände besser, entweder Jean Calvin oder Johannes Kalvin shelog 18:35, 1. Jun 2003 (CEST)
- Weder noch: Eigentlich heißt er Jean Cauvin, doch in Paris (während seines Studiums) hat er seinen Namen lateinisiert(?): Johannes Calvinus. Daraus wurde wieder Jean Calvin, was sich ins Deutsche als Johannes Calvin eingebürgert hat. Von daher ist Johannes Calvin in Ordnung. Oder man ändert es - um es wirklich "original" zu haben - in Jean Cauvin (nur dass keiner den Namen kennt) bzw. Johannes Calvinus (wobei hier wohl das Gleiche gilt).
- Meine Meinung dazu: Johannes Calvin ist der Name, unter dem er in Deutschland bekannt ist: deshalb sollte das so bleiben (die anderen Namensformen können ja im Artikel kurz erwähnt werden). -- Kairos 10:08, 7. Apr 2004 (CEST)
Unkorrekter Abschnitt
Sorry, aber der folgende Abschnitt ist historisch gesehen nicht korrekt. Ich bitte darum, dass er vom Autor [Benutzer:Yorg] gändert wird, sonst werde ich das bald machen.
"Calvin war - gemeinsam mit der Inquisition - wesentlich daran beteiligt, dass sein Freund und Weggefährte Michael Servet (Miguel Serveto; Pseudonym Michel de Villeneuve) am 27. 10. 1553 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde."
Michael Servet war nicht Calvins Freund!! sonder vielmehr ein theologischer Gegner und Calvin war auch nicht WESENTLICH daran beteiligt!!! -- Kairos 09:32, 25. Jun 2004 (CEST)
- Natürlich war Calvin als "Chefideologe" der Genfer Theokratie wesentlich an Servetus' Verurteilung beteiligt. Deshalb habe ich den Abschnitt (umformuliert) wieder eingefügt. --Zumbo 11:25, 13. Sep 2004 (CEST)
Fehler
Bei Calvin konnte man sich nicht versichern ob man auserwählt ist oder nicht, das wurde erst im nachhinein von religiösen Seelsorgern so interpretiert. Siehe Max Weber - Die Protestantische Ethik. Vielleicht kann das mal jemand ändern. Danke. --Radical Philosophy (nicht signierter Beitrag von 217.86.191.40 (Diskussion | Beiträge) 20:26, 23. Mär. 2005 (CET))
- !!! Es ist keineswegs unumstritten, dass die "Ethik des Protestantismus" dem "Geist des Kapitalismus" den Weg bereitet hat. Im Gegenteil ist dieser Befund Max Webers aus Sicht der heutigen Soziologie eher fragwürdig, gilt manchen sogar als empirisch widerlegt (siehe asiatische tigerstaaten, um ein einfaches beispiel zu nennen). Außerdem gilt das katholische Italien als die Wiege des Kapitalismus. Die meisten wichtigen Begriff aus dem Finanzwesen stammen aus dieser Zeit. Gruß Toastman (nicht signierter Beitrag von 84.179.20.106 (Diskussion | Beiträge) 16:58, 20. Jan. 2006 (CET))
- Es kommt darauf an, was man als Kapitalismus ansieht: Einfaches Geldverleihgeschäft, wie das der Fugger oder der italienischen Banken betrieben wurde oder ein komplettes System der Warenwirtschaft, in dem alles zur Ware wird und alles zwei Seiten enthält: Innerer Wert (Gebrauchswert) und äußerer Wert (Tauschwert). Aus letzerem beruht das gesamte Personalwirtschaftssystem, daß der innere Wert der Arbeit eines Arbeitnehmers (Ertrag) immer wesentlich höher sein muß als der äußere Wert (Kosten) und der Differenz (Mehrwert), was im Manchesterkapitalismus zur Perfektion gebracht wurde. (btw.: Bei den asiatischen Tigerstaaten ist es auch ein religiöses Fundament, warum dort der Kapitalismus in Reinform praktiziert wird: der Taoismus). (nicht signierter Beitrag von Leptokurtosis999 (Diskussion | Beiträge) 12:33, 26. Mär. 2006 (CEST))
- Die Studien, die ich bislang gesehen habe, die Webers These angeblich widerlegen, hatten alle schwere Mängel oder widerlegen nicht eigentlich die Thesen Webers. Das im Text erwähnte Rheinland ist nur eine scheinbare Widerlegung. Es war zwar industrialisiert, jedoch waren die Industriebetriebe vorwiegend in protestantischer Hand, obwohl die Protestanten eine verschwindend kleine Bevölkerungsgruppe bildeten. (nicht signierter Beitrag von 84.44.194.233 (Diskussion | Beiträge) 19:45, 13. Jan. 2009 (CET))
Calvin war kein Schweizer
Man kann nicht Calvin einen Schweizer nennen, wenn schon eher einen Genfer. Genf war damals eine unabhängige Republik und hat vor 1815 nie zur Schweiz gehört. Cipriano Algor, 31.3.2006 (falsch signierter Beitrag von 212.203.114.196 (Diskussion | Beiträge) 11:45, 31. Mär. 2006 (CEST))
Calvin ist in Frankreich geboren und in Frankreich gestorben. Dass die Stadt Genf sich heutzutage in der Schweiz befindet, ist total irrelevant. --Dunnhaupt 13:33, 25. Apr 2006 (CEST)
Calvin und die Hexenprozesse
Genau wie Luther befürwortete Calvin vehement die Verfolgung der Hexen und deren Hinrichtung. Johannes Calvin rief in wörtlicher Befolgung alttestamentlicher Aussagen dazu auf, „Hexen“ aufzuspüren und gnadenlos „auszurotten“.
- Quelle: Prof. Jörg HAUSTEIN: Martin Luthers Stellung zum Zauber- und Hexenwesen, Dissertation, 1990, S. 150.
- Meyers Lexikon, 1886 -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
Er forderte die unerbittliche Verfolgung und Vernichtung von Feinden Gottes, damit auch der Hexen. Unter Berufung auf die Bibelstelle Exodus 22, 17 erklärte Calvin, Gott selbst habe die Todesstrafe für Hexen festgesetzt. In seinen Predigten über das erste Buch Samuel tadelte er darum jene, welche die Verbrennung der Hexen ablehnen, und wollte sie als Verächter des göttlichen Wortes aus der Gesellschaft ausstoßen. Wer sich gegen die Hinrichtung der Hexen auszusprechen wagte, setzte sich der Gefahr schwerster Verfolgungen, des Bannes oder Todes aus.
- Quelle: Oskar Pfister: Das Christentum und die Angst, Zürich 1945, S. 358 f -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
Calvin glaubte, dass drei Jahre lang Männer und Frauen in Genf durch Zauberkünste die Pest ausbreiteten und hielt alle ihnen durch die Folter abgepressten Selbstanschuldigungen für wahr, nachträglichen Widerruf für unwahr. 1545 wurden innerhalb weniger Monate 34 Unglückliche nach entsetzlichen Martern vor allen Häusern, die sie angeblich mit Pest behext hatten, verbrannt.
- Quelle: Oskar Pfister: Das Christentum und die Angst, Zürich 1945, S. 358 -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
Der deutsch calvinistische Pfarrer Anton Praetorius wandte sich 1602 mit seinem Buch Von Zauberey vnd Zauberern Gründlicher Bericht mit Argumenten aus der Bibel vehement gegen Calvins und Luthers Aufruf zur Verbrennung der Hexen und forderte die Abschaffung der Folter.
Dieser Absatz ist hierher verschoben, weil
- er nicht neutral formuliert ist
- er dem Artikel einen falschen Schwerpunkt gibt - Hexenprozesse waren nicht der Hauptteil vom Wirken Calvins
- Dies ist ein Aspekt des Wirkens von Calvin, der ein historisches Faktum ist.-- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
- Wenn Calvin an Hexerei, die Existenz des Teufels etc. glaubte, dann glaubte er das gleiche wie fast alle Leute bis zur Aufklärung - es ist historisch falsch, dafür ihm persönlich einen Vorwurf zu machen.
- Praetorius hat nichts mit Calvin zu tun - er schrieb 50 Jahre später.
- Als erster calvinistischer Pfarrer wandte sich Praetorius gegen Hexenprozesse. -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
- Gibt es einen Beleg, dass Calvin selbst direkt für die Hexenprozesse in Genf verantwortlich war?
- Es ist "eine mit Calvins Siegel versehene Eingabe von 1546 vorhanden, in der Calvin die Folter anwendbar erklärt im Untersuchungsverfahren bei Falschmünzern, Räubern, Zauberern und Wahrsager, und zwar soll die Tortur sogar auf angeblich Mitschuldige und Zeugen ausgedehnt werden. Zur Tötung aller Zauberer und Wahrsager hat Calvin auch auf der Kanzel aufgefordert." Quelle: Oskar Pfister, Das Christentum und die Angst, Zürich 1975, S. 364 --Hegeler 00:31, 29. Jul 2006 (CEST)
- Das persönliche Eingreifen von Calvin in die Hexenprozesse von Peney ist detailliert beschrieben und belegt worden in dem Werk:
- Oskar Pfister: Calvins Eingreifen in die Hexer- und Hexenprozesse von Peney 1545 nach seiner Bedeutung für Geschichte und Gegenwart, Zürich 1947 -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
- Gibt es einen Beleg dafür, das Calvin selbst konkret Leute verfolgte, die gegen die Hinrichtung von Hexen waren?
- 1545 wandte sich Calvin ausdrücklich gegen das mildere Vorgehen des Rates gegen nicht geständige Angeklagte in dem Hexenprozess von Peney und fordert die harten Richter zu noch strengeren Maßregeln auf. Quelle: Oskar Pfister, Das Christentum und die Angst, Zürich 1975, S. 364 --Hegeler 00:31, 29. Jul 2006 (CEST)
- Oskar Pfister: Calvins Eingreifen in die Hexer- und Hexenprozesse von Peney 1545 nach seiner Bedeutung für Geschichte und Gegenwart, Zürich 1947 -- Hegeler 18:14, 28. Jul 2006 (CEST)
- Ich habe das ganze, analog zu Luther, zu Verfolgung der Hexen verschoben. Auch wenn es sich um historische Tatsachen handeln mag, ist es in diesem Artikel eine einseitige Hervorhebung - einseitig, weil Calvins historische Wirkungsgeschichte ganz andere Schwerpunkte hat, und einseitig weil Calvin sich, auch mit dem oben aufgeführten, nicht von der Mehrheit seiner Zeitgenossen in allen wesentlichen Konfessionen unterschied. Dazu kommt, dass die Hexenverfolgung der Neuzeit von weltlichen Gerichten und nicht von Kirchen durchgeführt wurde und nicht primär zur Zeit Calvins Irmgard 13:53, 2. Jul. 2007 (CEST)
Aussprache
Ich vermisse eine IPA-Notation der Aussprache des Namens. Cocyhok 01:52, 6. Jul 2006 (CEST)
- In welcher Sprache? ;-) Irmgard 21:09, 29. Jul. 2007 (CEST)
Familie
Ich fände es gut, wenn man noch ein wenig über seine Frau Idelette von Bure sowie über seinen Sohn und über seine 2 angenommenen Kinder schreiben würde. --Dove 08.12.06
Calvin = Kapitalismus???
Die Passage halte ich doch für seeeeehr fragwürdig. Entweder streichen, oder die "komplizierten Zusammenhänge" weiter erläutrn! (nicht signierter Beitrag von 84.171.253.213 (Diskussion | Beiträge) 14:18, 29. Jul. 2007 (CEST))
- Sind im Artikel Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus erläutert - dorthin verwiesen. Irmgard 21:08, 29. Jul. 2007 (CEST)
Monographie Stefan Zweigs über Calvin
Die Monographie Stefan Zweigs über Calvin ("Castellio gegen Calvin") liefert ein sehr übles Bild von Calvin - und ich glaube, Zweig hat recht. Zweigs Biographien sind immer hervorragend recherchiert; warum sollte es bei Calvin anders sein? Calvin war demnach ein kühler Rationalist, intolerant und engstirnig, und der Mord an Servet geht klar auf sein Gewissen.
Ich würde also der Sichtweise Zweigs den Vorzug geben: weil sie die am besten recherchierte ist. Um sich davon zu überzeugen, lese man Zweigs andere Biographien z.B. über M. Antoinette oder J. Foucould. Und man kann Zweig außerdem nicht vorwerfen, dass er ein Parteigänger irgendeiner politischen oder religiösen Richtung wäre.
Wenn man Zweigs Sichtweise ablehnt, sollte man Belege beibringen, warum Zweig irrt. Zweigs Kritiker lehnen ihn meist von einem - allzu durchschaubaren - pro-religiösen oder pro-calvinistischen Standpunkt aus ab. (nicht signierter Beitrag von 193.171.79.65 (Diskussion | Beiträge) 16:48, 8. Nov. 2007 (CET))
- Aufschlussreich zum Verständnis des Zweig-Textes ist das Entstehungsjahr 1936 mit den Eindrücken der Gewalt und der totalitären Herrschaft des Nationalsozialismus auf Zweig. Ohne eigenes gründliches Calvin-Studium und durch sekundäre Informationen mit negativen Urteilen versorgt, lieferten die zeitgenössischen Ereignisse - der Konflikt zwischen toleranz und Humanismus - das Interpretationsmuster zur Darstellung des Fanatikers Calvins, der in groteskerweise verzeichnet wurde. Indirekt knüpft Zweig an Darstellung von F.W. Kampschulte aus dem 19 Jhd. an. Calvin wurde zur dunklen Folie für den an Castelio entdeckten Toleranzgedanken, dem Zweig sich selber verpflichtet sah. Letzlich nahm Zweig eine idealtypische Historiographie vor, in der er geschichtliche Phänomene personalisierte und Calvin in die Nähe Hitlers rückte. Die Wirkung von Zweigs Zerrbild reicht bis heute in die Gegenwart zurück und findet gelegentlich Eingang in die Schulbücher und beeinflusst noch heute populäre Nachschlagewerke (nicht signierter Beitrag von 92.77.225.166 (Diskussion | Beiträge) 11:40, 29. Okt. 2009 (CET))
Zusammenhang Prädestinationslehrere und Kapitalismus
"Calvins Lehre beinhaltete auch den zentralen Punkt, die Menschen könnten an ihrer Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung sehen, ob sie zum Heil vorausbestimmt seien."
Dieser Satz ist blanker Unsinn. Ich will ihn nicht einfach löschen, weil sonst der ganze Abschnitt neukonzipiert werden müsste, aber daraus spricht ein totales Unwissen über Calvins Theologie, der den gesamten Artikel ruiniert. Calvins Prädestinationslehre besagt eben, daß es NICHT in der Hand des Menschen liegt, ob er von Gott erwählt werde oder nicht. Gleichfalls ist diese Erwählung NICHT an sichtbaren Zeichen im Leben eines Menschen ablesbar. Wovon hier die Rede ist, ist keinesfalls die Intention von Calvin, noch hat er das selbst konkret so dargestellt, sondern beruht auf später entstandenen Mißinterpretationen seiner Lehre, unter anderem eben durch Max Weber. Signaturnachtrag: Poupoulcorouse 01:03, 31. Jan. 2009
Artikelausbau zu "500 Jahre Geburt von Johannes Calvin"
In Anbetracht der Tatsache dass in diesem Jahr in vielen Orten Europas die Geburt von Johannes Calvin vor 500 jahren durch Festakte und Ausstellungen gefeiert wird (in Berlin eine solche mit kleinen Festakt und Ansprache auch des niederländischen Ministerpräsidenten gerade eröffnet [1]), wäre es sehr schön, wenn dieser Artikel mal von kompetenter Seite umgehend überarbeitet und ausgebaut würde.
Die lange Abhandlung seines Lebens in nicht gerade glänzendem Stil und die bislang nur wenigen Worte zu den konkreten Imhalten seiner Lehre im Unterschied zu anderen teils früheren Reformatoren (der römisch-katholischen Kirche) wie beispielsweise Jan Hus, Martin Luther, Ulrich Zwingli, Heinrich Bullinger drängen geradezu nach einer Weiterentwicklung hier in diesem Artikel, der besonders in diesem Jahr auch von vilelen Lesern mit Sicherheit angesteuert werden wird. In der gegenwärtigen Form lässt er Wikipedia nicht gerade glanzvoll dastehen! Gruß -- Muck 19:44, 31. Mär. 2009 (CEST)
Name (Michael Servet bzw. Michael Servetus) (erl.)
Michael Servet wird einmal als Servetes und ein anderes mal als Servet namentlich erwähnt. Beide Bezeichnungen sind zwar korrekt, innerhalb eines Textes sollte m.E. aber nur eine Version benutzt werden. (nicht signierter Beitrag von 62.181.136.200 (Diskussion | Beiträge) 07:25, 10. Jul 2009 (CEST))
- Da hast du wohl Recht, werde das mal auf Servetus ändern (so heißt ja auch unser Artikel). Danke für den Hinweis. Gruß --Schniggendiller Diskussion 23:26, 10. Jul. 2009 (CEST)
Abgründe menschlicher Gewaltfantasien
Menschen sind zu vielem fähig und es gibt menschliche Abgründe und Gewaltfantasien die unvorstellbar sind. Aber das abscheulichste aller denkbaren Gräueltaten ist meiner Meinung nach das Töten eines Kindes.
1554 plädierte Calvin dafür einige (!) schulpflichtige Knaben zu ertränken. Sie wurden bei "widerwärtigen und hassenswerten Dingen" erwischt. Man schlug damals Calvin diesen Wunsch aus (http://bazonline.ch/wissen/geschichte/Johannes-Calvin-Religionsterrorist-oder-Sachwalter-Christi/story/17583881).
Und wir reden hier darüber ob dieser Mensch von Gottes Geist inspiriert war? Ein Herz aus dem solche Gedanken kommen? Was für Abgründe tun sich hier auf? (nicht signierter Beitrag von 217.227.89.43 (Diskussion | Beiträge) 17:14, 14. Jul 2009 (CEST))
- Schade nur, dass in dem von dir genannten Artikel von Michael Meier: Johannes Calvin: Ein Religionsterrorist? der Baseler Zeitung für diese aus heutiger Sicht haarsträubenden Aktionen oder Einstellungen aus der Genfer Zeit (1541 bis 1546) auch keine genauen Quellen genannt werden. Allein mit validen und nachvollziehbaren Quellen gehören derartige Details über Calvin dann aber auch wirklich in den Artikeltext. -- Muck 10:09, 15. Jul. 2009 (CEST)
"Textspende"
von Benutzer:Martin Wolfangel wurde mit diesem Edit folgender text in den Artikel geschoben:
Calvins weltgeschichtliche Bedeutung
Luther hatte durch seine reformatorische Entdeckung – sola scriptura, sola gratia, sola fide, solus Christus - und ihre Anwendung auf alle Gebiete der Theologie und der Kirche das mehr als tausend Jahre lang geltende katholische Deutungsmonopol der Bibel und der gesamten Weltwirklichkeit gebrochen und – ebenso wichtig - ein umfassendes Gegenmodell geschaffen. Denn Protestanten verstehen sich nicht als Neinsager. Das lateinische Wort "protestare" bedeutet etymologisch nicht "ablehnen, widersprechen, nein sagen", sondern "für etwas Zeugnis ablegen". Protestanten sind Menschen, die für ihren auf das Evangelium gegründeten Glauben Zeugnis ablegen. Durch das Entstehen protestantischer Staaten fiel auch das katholische Machtmonopol im westlichen Teil des Abendlands.
Luthers Rückgriff auf die Bibel wurde von Millionen von Menschen als elementare Befreiung empfunden. Seine Botschaft war für sie umso überzeugender, als er sich nicht auf nicht nachprüfbare, angeblich "göttliche" Eingebungen berief, sondern auf eine außerordentlich sorgfältige Interpretation der biblischen Bücher, vor allem der Briefe des Apostels Paulus, die der Analyse durch andere Sachkundige standhielt. Deshalb löste die Reformation in kürzester Zeit in vielen Ländern eine Volksbewegung im besten Sinne des Wortes aus. Sie erfasste alle Schichten der Bevölkerung, vom Tagelöhner und der Stallmagd bis zu Fürsten und Königen. Luther vollzog für das Abendland den "Abschied vom Mittelalter" (DER SPIEGEL), den Beginn der Neuzeit.
Calvin war als Reformator der zweiten Generation von Luther, aber auch von Melanchthon, Zwingli und Bucer abhängig. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio religionis christianae" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah Calvin ganz Europa. Er unterrichtete Tausende von Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 von Theodor Beza, seinem späterem Nachfolger, gegründete theologische Akademie in Genf strömten. Calvins Anschauungen verdrängten nach und nach in den reformierten Gebieten der Schweiz weitgehend die Zwinglis, und durch Calvins Einfluss entstanden reformierte Kirchen in Frankreich (Hugenotten), den Niederlanden, am Niederrhein, Schottland (Presbyterianer), Polen, Ungarn und Italien, wo sich die wenigen kleinen, der Verfolgung entgangenen Waldensergemeinden der Reformation anschlossen. In stärkerem oder schwächerem Maße wurden durch Calvin auch andere Kirchen geprägt: Kongregationalisten, Taufgesinnte (Baptisten, Mennoniten), die Böhmisch-Mährische Brüderunität und die Methodisten. Die meisten dieser Kirchen übernahmen Calvins urchristlich-presbyterial-synodale Kirchenverfassung, milderten aber insbesondere seine Prädestinationslehre ab. Die Bekenntnisgrundlage der anglikanischen Kirche, die 39 Artikel, ist gemäßigt reformatorisch, beeinflusst vor allem von Zwingli und Calvin. Die Quäker entstammen ebenfalls dem reformatorischen Umfeld.
Insbesondere die angloamerikanische Welt ist ohne Calvin nicht vorstellbar. Dazu gehören Großbritannien und seine über die ganze Welt verstreuten ehemaligen Kolonien Vereinigte Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland, deren Bevölkerung mehrheitlich aus eingewanderten Europäern und ihren Nachfahren besteht. Auf dem afrikanischen Kontinent sind es die Republik Südafrika, Simbabwe, Tansania, Kenia, Ghana, in Asien Hongkong und Singapur und vor allem Indien mit seinen 1,1 Milliarden Einwohnern, wo trotz einer nur kleinen protestantischen Minderheit die frühere Kolonialmacht außerordentlich tiefe, positive Spuren hinterlassen hat, zum Beispiel eine funktionierende Verwaltung und ein solides Rechtssystem. Die "größte Demokratie der Welt" ist britisches Erbe ebenso wie Englisch als lingua franca.
Die reformierten und presbyterianischen Kirchen haben weltweit etwa 80 bis 100 Millionen Mitglieder. Wie andere Kirchen auch verlieren die von Calvin geprägten oder beeinflussten Kirchen ständig Mitglieder. Aber sie gewinnen auch neue hinzu, insbesondere in Lateinamerika, Afrika und Südkorea. In China sind Christen die am schnellsten wachsende religiöse Gruppe. Man schätzt ihre Zahl auf 40 bis 130 Millionen, etwa drei Viertel sind Protestanten. Sie haben den Vorteil, dass sie nicht von einer geistlichen Autorität im Ausland wie etwa dem Papst abhängig sind, vielmehr gestalten sie ihr gottesdienstliches Leben und ihre anderen Angelegenheiten selbständig.
Im 19. und 20. Jahrhundert schlossen sich reformierte und lutherische Kirchen zu Unionskirchen zusammen (z.B. in der Pfalz und in Preußen). In den Vereinigten Staaten gründeten Reformierte und Lutheraner die United Church of Christ, der so international renommierte Theologen wie Reinhold Niebuhr und Paul Tillich angehörten. Ihre prominentesten Mitglieder zur Zeit sind Präsident Obama und seine Familie, der Unternehmer Bill Gates und die Fernseh-Moderatorin Oprah Winfrey.
Der Calvinismus brachte eine Reihe herausragender Theologen hervor, beispielsweise im 20. Jahrhundert den Schweizer Karl Barth, der mit seiner monumentalen "Kirchlichen Dogmatik" Generationen von Theologen weit über die reformierten Kirchen hinaus tief beeinflusste und während des Dritten Reiches von seinem Heimatland aus den Mitgliedern der Bekennenden Kirche den Rücken stärkte. Zu nennen sind auch Emil Brunner sowie der Barth-Schüler Otto Weber. Ihnen gemeinsam ist, dass sie etwa in der Prädestinationslehre Korrekturen an Calvins Position vornehmen. Sie betonen, dass nach dem neutestamentlichen Zeugnis in Christus Gottes Ruf an alle Menschen ergeht. Dass es dennoch Menschen gibt, die das Heilsangebot ausschlagen, sei ein Geheimnis, das logisch nicht durch eine Vorherbestimmung zur Verdammnis aufgelöst werden dürfe. Calvin habe an dieser Stelle seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über den Willen Gottes nicht Gehör geschenkt.
Der Einfluss Luthers und Calvins beschränkte sich keineswegs auf das Religiös-Kirchliche. Ihre Theologie hatte stärkste Auswirkungen auf sämtliche Gebiete des menschlichen Lebens: Ehe und Familie, Schule und Hochschule, Staat und Wirtschaft, Kunst, Wissenschaft und Technik.
Der von Calvin geprägte Protestantismus brachte viele sehr bedeutende Schriftsteller und Maler hervor. Ein Teil von ihnen behandelt religiöse Themen, andere sind mehr oder weniger stark von der unverwechselbaren geistigen Kultur des Calvinismus beeinflusst. Eine kleine Auswahl: J. Gotthelf, C.F. Meyer, G. Keller, F. Dürrenmatt, M. Frisch; J. Bunyan, Ben Jonson, W. Shakespeare, J. Milton, J. Donne, D. Defoe, J. Austen, S. Coleridge, T.S. Eliot, N. Hawthorne, W. Whitman, Mark Twain, W. Faulkner; Rembrandt, F. Hals, A. van Dyck. In der Musik war der Calvinismus weniger fruchtbar: H. Purcell, G.F. Händel in seiner Londoner Zeit.
Die Neuzeit und die Moderne (ab etwa 1700) verdanken ihr Entstehen, ihre Eigenart und ihre Entwicklung der engen Verflechtung von im Wesentlichen folgenden Faktoren: Demokratie und Menschenrechte, Leistungsbereitschaft des Einzelnen und soziale Verantwortung, Wirtschaft und Handel, Naturwissenschaft und Technik. Auf allen diesen Feldern leisteten Luther, Calvin und der von ihnen geschaffene Protestantismus Bahnbrechendes.
Demokratie
Voraussetzung für Demokratie ist die Gleichheit der Bürger hinsichtlich ihrer Teilnahme an der politischen Willensbildung und der Führung ihres Gemeinwesens, verwirklicht durch die Wahl von Mandatsträgern, die ihr Amt auf Zeit ausüben und gegebenenfalls abgewählt werden können. Die staatsbürgerliche Gleichheit schließt Rechtsgleichheit ein. Bürger- und Menschenrechte bedingen sich gegenseitig. Das deutsche Grundgesetz fasst beide Rechtsgruppen in dem Begriff Grundrechte zusammen.
Die altgriechische Demokratie war Demokratie nur in eingeschränktem Maße, da sich lediglich freie Männer an den politischen Willensbildungsprozessen beteiligen durften. Frauen und Sklaven, also die Mehrheit der Bevölkerung, waren ausgeschlossen. Zudem war die attische Demokratie nur von relativ kurzer Dauer. Die Stadtstaaten wurden bald größeren Reichen eingegliedert (Alexander der Große, Diadochen, Rom, Byzanz, Osmanisches Reich).
Entscheidend für das Entstehen der Demokratie im westlichen Teil des Abendlands war nicht das antike Griechenland, sondern die jüdisch-christliche Tradition. Das Neue Testament ist ein Dokument der Friedfertigkeit. Trotz der Dringlichkeit, mit der die christliche Botschaft vorgetragen wird, respektierte das Urchristentum doch die Freiheit der Menschen, die Botschaft anzunehmen oder abzulehnen. Nirgends wird Gewaltmaßnahmen das Wort geredet. (Die apokalyptischen Geschehnisse, die insbesondere in der Johannes-Apokalypse dargestellt werden, sind eine Sache Gottes. Sie bedürfen keiner menschlichen Mithilfe. Jesus, Paulus und die meisten anderen neutestamentlichen Autoren waren keine Apokalyptiker.) Die Ausbreitung des Christentums im römischen Reich vollzog sich trotz mehrerer furchtbarer Verfolgungswellen rasch und auf friedliche Weise. Doch als im Jahr 380 das Christentum Staatsreligion wurde, änderte sich die Situation grundlegend. Schon 391 wurden die ersten nicht christlichen Tempel zerstört und "Heiden“ verfolgt. Im westlichen Europa bildete sich Rom als religiöses Zentrum heraus. Trotz gewisser Rivalitäten, zum Beispiel im Investiturstreit, stützten sich Kirche und weltliche Obrigkeiten gegenseitig. Die Kirche verlieh der weltlichen Macht religiöse Legitimation. Im Gegenzug gewährten die Feudalmächte der Kirche Schutz und halfen bei der Erweiterung ihres Einflusses. Besonders eng war das Zusammenwirken bei der Bekämpfung von Glaubensabweichlern. Häresie war auch ein weltliches Verbrechen. Folter sollte die von der Kirche Abtrünnigen zum Widerruf zwingen. Wer sich weigerte zu widerrufen, wurde getötet, meist durch öffentliches Verbrennen. Wer widerrief, wurde oft nicht freigelassen, sondern mindestens drei Jahre lang eingekerkert.
Es besteht eine Affinität zwischen der katholischen Kirche und weltlichen Feudalmächten, da die Kirche selbst streng hierarchisch gegliedert ist. Man denkt und handelt "von oben nach unten": Der Papst setzt Bischöfe ein und ernennt einige von ihnen zu Kardinälen. Die Bischöfe ihrerseits weihen Priester, die die Sakramente, d.h. die Verbindung zwischen Gott und Mensch, verwalten. Wo Papst, Bischöfe und Priester sind, dort - und nur dort - ist Kirche. Ihre Struktur ist monarchisch. Nur wenn ein Papst gestorben ist, tritt für kurze Zeit eine Oligarchie an die Spitze der Kirche: das Kardinalskollegium, das aus seiner Mitte den neuen Papst wählt.
Die Reformation brachte einen radikalen Einschnitt und Wandel. Da Papsttum, katholisch verstandenes Bischofs- und Priesteramt im Neuen Testament nicht bezeugt sind, wurden sie von Luther, Calvin und den anderen Reformatoren verworfen. An ihre Stelle trat nach neutestamentlichem Vorbild das "allgemeine Priestertum aller Gläubigen". Kirche ist dort, wo das Evangelium gepredigt und geglaubt wird, entsprechend dem Wort Jesu: "Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen" (Matthäus 18, 20). Das bedeutet eine Gleichstellung der Gemeindeglieder. Man denkt und handelt "von unten nach oben". Der Pfarrer hat keinen geistlichen Sonderstatus. Seine Aufgabe, die örtliche Kirchengemeinde zu leiten, wird ihm von den Gemeindegliedern übertragen aufgrund seiner theologischen Ausbildung und anderer Fähigkeiten, beispielsweise in der Seelsorge. Er wird, so Luther, von der Gemeinde "gewählt und berufen" ("Daß eine christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu beurteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen"; 1523). Der niedrige Bildungsstand und die Unselbständigkeit der evangelisch gewordenen Menschen machten die rasche Umsetzung dieses Konzepts jedoch unmöglich. Außerdem bestand die akute Gefahr, dass die katholischen Mächte unter Führung von Kaiser Karl V. versuchen würden, die Reformation mit Waffengewalt rückgängig zu machen. (Der erste dieser Angriffe erfolgte kurz nach Luthers Tod im Schmalkaldischen Krieg 1546/47.) Deshalb bat Luther die evangelisch gewordenen Landesherren, als temporären Notbehelf die "Visitation" der Kirchengemeinden in ihrem Territorium zu übernehmen. Visitation bedeutete die Vereinheitlichung der Lehre in den Gemeinden, Verwaltung ihrer Finanzen, Ausbildung von Pfarrern und Ähnliches. Luther konnte nicht ahnen, dass die Landesherren diesen Machtzuwachs nicht mehr aufgeben würden, so dass das "landesherrliche Kirchenregiment" in Deutschland erst 1918 endete. In den skandinavischen Ländern entstanden im 16. Jahrhundert lutherische Staatskirchen. In beiden Fällen war die Kirche eng mit Feudalmächten liiert. Hier konnte im weltlichen Bereich keine Demokratie entstehen.
Völlig anders verlief die Entwicklung in den reformierten Kirchen. Calvin führte neben drei weiteren kirchlichen Ämtern in seiner Kirchenordnung (1541) nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden Älteste (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pastoren (ministres) bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Vertretung der Kirche zur Leitung ihrer Angelegenheiten. Die französische Hugenottenkirche fügte dieser Kirchenordnung die reformierte Synodalverfassung und kirchliche Selbstregierung (Nationalsynode und Provinzialsynoden) hinzu, die von allen weltlichen Institutionen unabhängig ist. Diese Kirchenverfassung übernahmen die Reformierten am Niederrhein, in den Niederlanden, in Schottland und anderen Ländern. Die Mitglieder dieser Gremien und die Pfarrer wurden von den Ortsgemeinden durch Wahl bestimmt. Das entsprach Luthers ursprünglicher Intention.
Im Jahr 1560 wurde in Schottland die Reformation eingeführt. Der Führer der neuen Kirche war John Knox, ein Schüler Calvins. Die presbyterianische Kirche hat ihren Namen von dem griechischen Wort für Ältester (presbýteros). Für sie ist dieses Amt von konstitutiver Bedeutung.
In England gab es ab etwa Mitte des 16. Jahrhunderts eine starke Minderheit von calvinisch beeinflussten Christen, die sich Independents oder Congregationalists nannten, da für sie die Einzelgemeinde (congregation) das Zentrum der Kirche ist. Die Bezeichnung "Puritaner" war anfangs ein Spottname, den die Gegner der Independents für diese (und die Presbyterianer) verwendeten. Deren Bestreben, die Kirche von allen katholischen Strukturen zu "reinigen" (to purify), wurde von den Anglikanern verhöhnt und abgelehnt. Die Kirche von England war 1534 entstanden. Die protestantischen, absolutistisch regierenden Könige, insbesondere Elisabeth I. und Jakob I., wollten alle ihre nicht katholischen Untertanen zwingen, der Church of England beizutreten (Act of Uniformity). Die Kongregationalisten weigerten sich, weil ihnen die Reformation der anglikanischen Kirche nicht weit genug ging. Insbesondere lehnten sie das Bischofsamt ab. Um der Verfolgung zu entgehen, wanderten viele von ihnen in die nordamerikanischen Kolonien aus. Im Jahr 1620 wurde eine dieser Gruppen mit ihrem Schiff "Mayflower" durch einen Sturm zu weit nach Norden getrieben, an eine Stelle, für die sie keine königliche Charter hatten. Vor der Landung bei Cape Cod schlossen die "Pilgerväter" (Pilgrim Fathers) einen Vertrag, in dem sie schriftlich festhielten, alles, was für ihr künftiges Zusammenleben notwendig sein würde, im Konsens selbst zu regeln. Der "Mayflower Compact" symbolisierte nicht nur den Beginn der amerikanischen Demokratie, sondern der neuzeitlichen Demokratie überhaupt. Er war, wie Abraham Lincoln später formulierte, "Government of the people, by the people, for the people" ("Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk"). - Die englische Bill of Rights von 1689 war zweifellos ebenfalls eine äußerst wichtige Etappe auf dem Weg zur neuzeitlichen Demokratie. Das Unterhaus musste sich aber weiterhin die politische Macht mit dem König und dem nicht gewählten Oberhaus teilen. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts gingen in Großbritannien sämtliche politischen Befugnisse auf das vom Volk gewählte Unterhaus über. Bezeichnend ist, dass sowohl in Nordamerika als auch in England die demokratischen Strukturen aus derselben calvinisch-puritanischen Geisteshaltung erwuchsen.
Mit dem Untergang der spanischen Armada (1588) scheiterte der Versuch einer auswärtigen Macht, England und Schottland (in Personalunion seit Jakob I.) gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit des Volkes wieder katholisch zu machen. (Das Debakel der Armada bedeutete das Ende der Vision eines spanischen Weltreichs und war gleichzeitig der Anfang des englischen Empires.) Die Anstrengungen einiger Monarchen - Maria Stuart, Maria Tudor, Karl I., Karl II., Jakob II. -, das Land von innen heraus zu rekatholisieren, scheiterten, endgültig 1689 mit der Glorious Revolution. (Maria Tudor, "die Blutige", ließ 300 Protestanten hinrichten.) Eine der wichtigsten Folgen war die Einführung der Pressefreiheit (1694), eines für die Demokratie unabdingbaren Grundrechts, im Mutterland und in den Kolonien.
Als die Siedlungen der Kolonisten wuchsen und neben den Kongregationalisten auch schottische Presbyterianer nach Nordamerika kamen, übertrugen sie die presbyteriale Verwaltungsstruktur ihrer Kirchengemeinden auf die bürgerlichen Kommunen: Sie beauftragten lebenserfahrene ältere Männer mit gutem Ruf mit der Leitung der Siedlungen. Oft waren es dieselben, die sowohl in der Kirchengemeinde als auch in der bürgerlichen Gemeinde Leitungsfunktionen innehatten. Diese kommunale Selbstverwaltung beschrieb Alexis de Tocqueville in seinem Werk "De la Démocratie en Amérique" (1835/40) zu Recht als die Wurzel der amerikanischen Demokratie. Der kirchlichen Synodalverfassung entsprach im weltlichen Bereich die Schaffung größerer Verwaltungseinheiten (County - Colony (später: State) - Union). Da die Siedler schon in England in schroffer Opposition zum Königtum gestanden hatten, war es nur eine Frage der Zeit, bis sich die Kolonien für unabhängig erklären und eine demokratische Republik schaffen würden.
Tocqueville schrieb, die Demokratie sei den Amerikanern eine "Gewohnheit des Herzens" geworden. In allen Bereichen der amerikanischen Gesellschaft sei dieser Geist zu spüren: im religiösen Leben, im Bildungswesen, im Verhältnis von Männern und Frauen, in den Umgangsformen, im Wirtschaftsleben und in der Einstellung zu Kunst und Wissenschaft.
Menschenrechte
Hand in Hand mit der Entwicklung einer demokratischen Gesellschaft entstanden in den nordamerikanischen Kolonien die Menschenrechte. Dreh- und Angelpunkt und nahezu unüberwindliches Hindernis war die Frage der Religionsfreiheit, das "Urgrundrecht" (Verfassungsrichterin G. Lübbe-Wolff). Da die religiöse Überzeugung so gut wie allen Menschen jener Zeit das Wichtigste im Leben war, fiel es ihnen besonders schwer, Andersgläubige zu dulden. (Die katholische Kirche akzeptierte erst im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962/65) die Glaubensfreiheit und den demokratischen, weltanschaulich neutralen Staat. Die Priesterbruderschaft St. Pius X., die Anfang 2009 wieder in die Kirche aufgenommen wurde, fordert die Rückkehr zum "katholischen Staat" und lehnt die Religionsfreiheit ab.) Ausgangspunkt für religiöse Toleranz waren grundsätzliche Erkenntnisse über das Wesen des christlichen Glaubens, wie sie Luther und Calvin aus dem Neuen Testament gewonnen hatten. Nach Luther muss das Evangelium frei gepredigt werden, in Glaubensdingen darf kein Zwang ausgeübt werden, schon gar nicht von der weltlichen Obrigkeit. "Der Glaube ist ein freies Werk; dazu kann man niemand zwingen." Eine anders geartete Glaubensüberzeugung könne man "nicht mit Eisen hauen, nicht mit Feuer verbrennen, nicht in Wasser ertränken". Man dürfe sie "niemals mit Gewalt abwehren". Nur mit der Predigt des Evangeliums könne man versuchen, den Andersgläubigen zu überzeugen ("Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei"; 1523). Dass Luther diese Haltung den Juden gegenüber nicht durchhielt, hebt ihre Gültigkeit nicht auf. – Im 19. und 20. Jahrhundert emigrierten Hunderttausende Juden in die protestantisch geprägten Vereinigten Staaten, oft auf der Flucht vor schwerer Diskriminierung oder Verfolgung in Europa. Sie wurden ohne Vorbehalte aufgenommen, rasch integriert und leisteten einen nicht unerheblichen Beitrag zum kulturellen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erstarken des Landes. Heute lebt rund ein Drittel der weltweiten Judenheit in den USA.)
Die reformatorische Ethik, aus der die Menschenrechte in der Neuzeit hervorgegangen sind, hat ihre Basis im Alten und Neuen Testament. Als Gottes Geschöpf empfängt der Mensch seine unverlierbare Würde und das Recht auf Leben und Freiheit (Gottesebenbildlichkeit, Imago Dei). Gott erschafft Mann und Frau als gleichberechtigte Partner (1. Mose 1, 27). Luthers Übersetzung "Gehilfin" in 1. Mose 2, 18 ist ungenau. Gemeint ist im Urtext eine gleichgestellte Hilfe. Auch hier ist die Frau dem Mann also nicht untergeordnet.
Der Dekalog (Zehn Gebote) gründet in der durch Gott gewirkten Befreiung des Volkes aus ägyptischer Sklaverei (2. Mose 20). Weil Gott dem Volk und dem einzelnen Israeliten die Freiheit geschenkt hat, wird der Mensch nicht nur als Arbeitkraft gesehen. Er hat – damals eine kulturgeschichtliche Großtat – Anspruch auf einen wöchentlichen Ruhetag. Wo Gott regiert, dürfen alte Menschen nicht im Stich gelassen werden, ein höchst humanes sozial- und familienpolitisches Gebot. Das Leben des Einzelnen, seine Ehe, Familie und sein Eigentum stehen unter göttlichem Schutz. Diese apodiktischen Gebote ergänzt eine kasuistische Gesetzgebung. Manche dieser Gebote erscheinen aus heutiger Sicht zweifellos barbarisch. "Wer Vater oder Mutter schlägt, der soll des Todes sterben" (2. Mose 21, 15). Aber verglichen mit den entsprechenden Gesetzen in der damaligen religiösen Umwelt, ist die große Mehrzahl dieser Gebote menschenfreundlich und freiheitlich. Beispielsweise fehlen im Alten Testament bis auf eine einzige Ausnahme (5. Mose 25, 11 f) Verstümmelungsstrafen, die im Alten Orient außerordentlich häufig waren. In Ägypten etwa wurde jemand, der einen Tempel bestahl oder ein Grab ausraubte, mit dem Abschneiden der Nase bestraft. Andere Gesetze in der hebräischen Bibel sind ausgesprochen human. "Fremdlinge" (Ausländer, Asylanten) dürfen "nicht bedrängt und bedrückt" werden (2. Mose 22, 20). Das Sabbatjahr ist sowohl sozial als auch ökologisch bedeutsam: Jedes siebte Jahr müssen die Felder brach liegen, damit sich die Armen und die Wildtiere von den Überbleibseln der Ernte ernähren können (2. Mose 23, 10 f). In Israel gab es Tierschutz (5. Mose 22, 6 f) und den Schutz vor Pfändung (5. Mose 24, 10 ff). Der König besaß keine Sonderrechte. Er durfte einen seiner Untertanen nicht nach Gutdünken töten oder töten lassen (2.Sam. 11 f). Die Propheten, insbesondere Amos, geißelten die Ausbeutung der Armen und Schwachen und kündigten Gottes Strafgericht für diese Untaten an (z. B. Amos 8, 4-6). Das Vergeltungsrecht ("Auge um Auge, Zahn um Zahn") war keineswegs Ausdruck eines generellen Rachegedankens, vielmehr ein humaner Fortschritt, weil es der Blutrache entgegenwirkte und das Strafmaß bei einer geringen Anzahl von Körperverletzungsdelikten einengte. Die lebensfördernde und lebenserhaltende Gesamtintention des alttestamentlichen Gesetzes wird im Neuen Testament fortgesetzt und intensiviert. Das Doppelgebot der Liebe (Matth. 22, 37-39) und die Bergpredigt mit ihren Antithesen (Matth. 5-7) bedeuten eine Zuspitzung der biblischen Ethik, die den Reformatoren und den von ihnen gegründeten oder beeinflussten Kirchen wohlvertraut war. Es war dieser Boden, auf dem die Menschenrechte wuchsen.
In den meisten Siedlungen in Nordamerika herrschte strenge Kirchenzucht, und es wurden anfangs nur Angehörige derselben Kirche (denomination) geduldet. Aber schon 1636 entstand unter Führung von Roger Williams auf Rhode Island die erste von Protestanten gegründete Kolonie, die ihren Bewohnern völlige Religionsfreiheit gewährte. Williams war der Auffassung, dass sich die weltliche Obrigkeit nicht in Glaubensfragen einmischen dürfe. Das war gut lutherisch. Der Quäker William Penn gründete 1682 die Kolonie Pennsylvania, die rein demokratisch verwaltet wurde und in der alle Bürger ihre Religion frei ausüben durften, auch Katholiken.
Die Tendenz, religiöse Freiheit zu gewähren, wuchs in den Kolonien, zumal sie aus wirtschaftlichen Gründen darauf angewiesen waren, möglichst viele neue Siedler zu gewinnen. Dieses wirtschaftliche Motiv hatte den katholischen Lord Baltimore bewogen, in der von ihm 1632 gegründeten Kolonie Maryland den Menschen ebenfalls Glaubensfreiheit zu gestatten. Immer mehr Protestanten der verschiedensten Richtungen vor allem aus Nord- und Mitteleuropa wanderten in Nordamerika ein. Außer Kongregationalisten und Presbyterianern kamen Taufgesinnte (Baptisten und Mennoniten), Anglikaner (Episkopalisten), Lutheraner, Quäker, Böhmische Brüder und andere, ab etwa 1750 auch Methodisten, deren Gemeinden rasch wuchsen. Sie bilden heute nach den Baptisten die zweitgrößte reformatorische Denomination in den Vereinigten Staaten. (Die heute wohl prominenteste Methodistin ist Hillary Clinton, die tief in der Spiritualität ihrer Kirche verwurzelt ist. Ex-Präsident Jimmy Carter unterrichtete viele Jahre lang in der Sonntagsschule seiner Baptistengemeinde Kinder und Jugendliche im christlichen Glauben. Martin Luther King war Baptistenpastor.) Diese Kirchen übernahmen die urchristlich-presbyterial-synodale Kirchenverfassung, sofern sie sie nicht schon in ihrer Heimat gekannt hatten. Katholiken, vor allem aus Süd- und Osteuropa, immigrierten in größerer Zahl erst ab etwa 1880. Da sie stets eine Minderheit bildeten, waren sie nicht imstande, die Protestanten militärisch anzugreifen und mit Gewalt zum Übertritt in die katholische Kirche zu zwingen. (Auch die englischen Könige verzichteten darauf, die Uniformitätsakte in den Kolonien anzuwenden. Es war ihnen wichtiger, dass ihre Untertanen das Land in Besitz nahmen und kolonisierten.) Zwar übten in einigen Kolonien (z. B. Massachusetts) Puritaner Druck auf die katholische Minderheit aus. Doch die Katholiken wurden nicht gezwungen, ihren Glauben aufzugeben. Ganz anders in Europa. Dort verfolgten die katholischen Mächte vom 16. bis teilweise ins 18. Jahrhundert (Frankreich) hinein das Ziel, durch Kriege und andere Maßnahmen die Protestanten zur Rückkehr in die Kirche Roms zu zwingen. Die Religionskriege kamen erst zu einem Ende, als die katholische Seite einsehen musste, dass dieses Ziel, abgesehen von einigen begrenzten Erfolgen, nicht zu erreichen war, auch nicht mit militärischen Mitteln. Im Deutschen Reich kam diese Einsicht 1648 im Westfälischen Frieden, in England 1689 durch die Glorious Revolution. Es war von größter weltgeschichtlicher Bedeutung, dass den Protestanten in Nordamerika Konfessionskriege erspart blieben. Denn so konnten sie ihre reformatorischen Vorstellungen von Freiheit, Menschen- und Bürgerrechten ungehindert entwickeln und umsetzen. Im 18. Jahrhundert führten die Kämpfe gegen englische Heere im Zusammenhang mit der Unabhängigkeitserklärung Protestanten und Katholiken in einem gemeinsamen Unternehmen weiter zusammen.
Der Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung (1776) atmet zwar den Geist der Aufklärung. Aber sie bringt zum Ausdruck, dass sowohl der Freiheitswille des amerikanischen Volkes als auch die Menschenrechte ("life, liberty, and the pursuit of happiness") religiösen Ursprungs sind. Ein deistisch verstandener "Schöpfer" hat die Menschen "gleich geschaffen" und ihnen "unveräußerliche Rechte" verliehen, einschließlich des Rechts, selbständig über ihr politisches Schicksal zu bestimmen. Diese ethischen Prinzipien waren nichts Neues. Sie stammten aus der jüdisch-christlichen Tradition und hatten das religiöse und politische Leben der protestantischen Kolonisten schon seit Anfang des 17. Jahrhunderts bestimmt. ("Happiness" bedeutet im 18. Jahrhundert das Maß an Wohlstand, das wirtschaftliche Unabhängigkeit sichert und dadurch Wohlbehagen erzeugt.)
Einige Monate vor der Unabhängigkeitserklärung wurde die "Erklärung der Rechte von Virginia" veröffentlicht, die wie die Französische Revolution 13 Jahre später die Menschenrechte nicht mehr theologisch, sondern naturrechtlich begründete.
Exkurs: Das Konzept des Naturrechts wirft Probleme auf. Denn aus der "Natur" des Menschen lassen sich nicht zwingend inhaltlich klar definierte Rechte ableiten. Der Mensch ist zu höchst edelmütigen Taten fähig, aber auch zu entsetzlichster Barbarei, sowohl als Einzelner als auch in einer Gruppe. Zudem unterscheiden sich die Menschen auf die vielfältigste Weise nach Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Körperkraft, Intelligenz, anderen Begabungen, religiösen und politischen Überzeugungen usw. Um trotzdem jedem einzelnen Mann und jeder einzelnen Frau, jedem Kind und jedem Jugendlichen dieselben Rechte zuzubilligen, bedarf es der Abstraktion, letzten Endes einer Glaubensentscheidung. Von den großen Weltreligionen war es nur der jüdisch-christliche Kulturkreis, der diese Entscheidung traf und Schritt für Schritt umsetzte. Zwar finden sich auch in einigen nicht christlichen Religionen Gebote und Verbote, die den im Abendland entwickelten Menschenrechten ähneln. Doch sie wurden von anderen Vorstellungen überdeckt und konnten deshalb geschichtlich nicht oder nur schwach wirksam werden. Im Konfuzianismus ist dem Einzelnen die Gemeinschaft und ihr jeweiliger Führer - Kaiser oder kommunistische Partei – übergeordnet. Nach hinduistischer und buddhistischer Auffassung legt das Gesetz des Karma aufgrund des Verhaltens des Einzelnen in früheren Existenzformen unerbittlich und unabänderlich fest, welche Position mit ihren jeweiligen, sehr unterschiedlichen Rechten (Kasten) er im jetzigen Leben innerhalb der Gesellschaft einnehmen muss. Bis zum Einmarsch chinesischer Truppen in Tibet 1950/51 waren die meisten Tibeter Leibeigene buddhistischer Klöster. Die Menschenrechtserklärung einiger islamischer Staaten von 1949 ordnet die Frau dem Mann unter, und nicht alle Bestimmungen der Scharia decken sich mit den Menschenrechten abendländischer Provenienz.
Der "Natur" kann man als "Naturrecht" nur das entnehmen, was man als angebliche Seinsordnung zuerst in sie hineingelesen hat. (Das gilt auch für die katholische Naturrechtslehre.) Deshalb fielen die Ergebnisse der naturrechtlichen Betrachtungsweise sehr verschieden aus. Nach Aristoteles ist nur ein Teil der Menschen von Natur aus zu Freien bestimmt, ein anderer Teil aber zu Sklaven. John Locke war ein starker Verfechter der Toleranz, aber Katholiken und Atheisten billigte er sie nicht zu. Kant hielt die Todesstrafe für unabdingbar für das staatliche Handeln. Der Französischen Revolution galten Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit nur Männern, nicht aber Frauen.
Man kann durchaus die Frage stellen, ob es die Aufklärung ohne die Reformation gegeben hätte. Jedenfalls kannten die anderen Weltreligionen keine religiöse und geistige Bewegung, die mit der Reformation vergleichbar wäre. Offensichtlich konnte dort deshalb keine Aufklärung entstehen. (Die Juden lebten als kleine Minderheit in einer christlichen Umwelt und partizipierten teilweise an deren geistigen Strömungen. Ein Beispiel war der jüdische Philosoph Moses Mendelssohn, ein Freund Lessings. Er verknüpfte aufklärerische Ideen mit jüdischen Traditionen.)
Reformation und Protestantismus waren für das Entstehen und den Erfolg der Aufklärung in dreifacher Weise unentbehrlich.
Erstens. Einer der Hauptgründe für das Entstehen der Aufklärung waren die furchtbaren Erfahrungen der Religionskriege im 16. und 17. Jahrhundert. Philosophen wie die englischen Deisten John Toland (1670-1722) und Matthews Tindal (1656-1733) dachten, kriegerische Auseinandersetzungen dieser Art in Zukunft unmöglich machen zu können, indem sie die Glaubenssätze aller Religionen und Konfessionen auf, wie sie meinten, ihren gemeinsamen Kern reduzierten, nämlich den Glauben an Gott den Schöpfer, die Willensfreiheit und die Unsterblichkeit der Seele. Dieser Glaube sei mit der menschlichen Vernunft vereinbar. Der Philosoph Christan Wolff (1679-1754) übernahm die deistische Lehre und machte sie im Deutschland des 18. Jahrhunderts sehr populär.
Zentral für das aufklärerische Denken ist die Konzentration auf den Einzelnen. Er ist neben anderem Gegenstand und Träger der Menschenrechte. Auch in dieser Hinsicht hatten bereits die Reformatoren die grundlegende Weichenstellung vorgenommen. Allerdings ist nach biblisch-reformatorischem Verständnis der Einzelne eingebettet in die Gemeinde. Er steht von Anfang an nicht nur in Beziehung zu Gott, sondern auch zu seinem Nächsten und zur außermenschlichen Schöpfung. Nach der aufklärerischen Anthroplogie steht der Mensch dagegen für sich allein (Solipsismus). Die Beziehung zum Mitmenschen und zur Natur muss auf wenig überzeugende Weise erst nachträglich hergestellt werden. Am Endpunkt dieser philosophischen Linie heißt es: "Die Hölle, das sind die anderen" (Sartre), da sie meine Freiheit einengen und somit in Frage stellen.
Wie alle Denker vor und nach ihnen waren die Philosophen der Aufklärung Kinder ihrer Zeit. Sie standen auf den Schultern ihrer geistigen Väter und Großväter. Sie griffen die Themen auf, die im 18. Jahrhundert gewissermaßen in der Luft lagen und allenthalben diskutiert wurden.
Die Menschenrechte sind keine Erfindung der Aufklärung. Vielmehr übernahmen ihre Philosophen das, was im protestantischen Nordamerika und in den reformierten Niederlanden seit dem frühen 17. Jahrhundert nicht nur theoretisches Postulat, sondern gelebte Wirklichkeit war, und verstärkten es. Die Mehrheit der einflussreichsten Philosophen der Aufklärungszeit stammte aus dem protestantischen Bürgertum: Locke, Leibniz, Tindal, Toland, Wolff, Hume, Rousseau und Kant. Die Philosophen der französischen Aufklärung waren zwar in einer katholischen Umwelt aufgewachsen, aber sie griffen den Klerikalismus und die Intoleranz ihrer Kirche scharf an, allen voran Voltaire ("Écrasez l'infâme!").
Zweitens. Der Protestantismus lieferte den Denkern der Aufklärung nicht nur gedankliche Voraussetzungen, er stellte ihnen auch einen Freiraum zur Verfügung, in dem sie ihre Ideen ohne Gefahr für Leib und Leben entwickeln und veröffentlichen konnten. Dass ihre Kritik an Religion und Christentum von konservativen protestantischen Theologen zurückgewiesen wurde, mussten sie in Kauf nehmen. Eine freie Gesellschaft ist ohne geistige Auseinandersetzung, auch wenn sie polemisch ist, nicht denkbar. Das ist etwas völlig anderes als Kerker, Folter und Scheiterhaufen für Andersdenkende.
Nach der Losreißung der Niederlande von Spanien (1579) nahmen unter Führung der Calvinisten Kultur und Wirtschaft in diesem Land einen glänzenden Aufschwung. Schon frühzeitig entstand eine kirchliche Toleranz. Dem wissenschaftlichen Denken wurde mehr Freiheit zugestanden als anderswo. Hugo Grotius (1583-1645) konnte seine Gedanken über natürliche Theologie, Naturrecht und historisch-grammatische Exegese lehren. Das Land bot freien Geistern wie R. Descartes (1596-1650) , B. Spinoza (1632-77) und Pierre Bayle Asyl. Sie waren Wegbereiter der Aufklärung. Descartes lebte ab 1628 in den Niederlanden. Er starb am Hof der schwedischen Königin Christine. Auch dort konnte ihm die Inquisition nichts anhaben. Der Philosoph B. Spinoza (1632-77) entstammte einer portugiesisch-jüdischen Familie, die in den Niederlanden Zuflucht gefunden hatte. Das Land war in Europa das Zentrum des Verlagswesens, auch für umstrittene Schriften. Galilei stellte heimlich in seinem von der Inquisition verfügten Hausarrest eine Abschrift seiner "Discorsi" her und ließ sie nach Amsterdam schmuggeln, wo das eminent wichtige Werk, die theoretische Grundlegung der neuzeitlichen Physik, erscheinen konnte. Von dort aus entfaltete es seine Wirkung. Das Original wurde in einer Bibliothek des Vatikans weggeschlossen. (Noch im 18. Jahrhundert verbrachte Voltaire vorsichtshalber die letzten Jahrzehnte seines Lebens auf seinem Landgut am Genfer See. Bei einer drohenden Verhaftung hätte er nur wenige Kilometer bis zur rettenden reformierten Schweiz fliehen müssen.)
Die Aufklärung nahm in den Niederlanden und England, den Ländern mit dem freiheitlichsten Geist, ihren Anfang, wurde dann in Deutschland aufgegriffen und sprang schließlich nach Frankreich über. Dort war ihre Kritik an Religion und Christentum radikal, insbesondere weil das Ancien Régime außergewöhnlich stark mit der katholischen Kirche verknüpft war. Dagegen war die kritische Einstellung der englischen und deutschen Aufklärungsphilosophen der Religion gegenüber moderat.
Hätte es ab dem 16. Jahrhundert im westlichen Europa und auf dem amerikanischen Doppelkontinent lediglich die katholische Kirche gegeben, hätte diese keinerlei Grund gehabt, die Kompetenzen der Inquisition einzuschränken oder sie gar abzuschaffen. Denn aus kirchlicher Sicht arbeitete sie sehr effektiv. Sie hätte die Denker, die es gewagt hätten, auch nur halb so weit von der Kirchenlehre abzuweichen, wie es Descartes, Spinoza, Bayle und die Aufklärungsphilosophen taten, rasch zum Schweigen gebracht.
Drittens. Es war in erster Linie das protestantische Bürgertum, das die Gedanken der Aufklärung aufgriff und umsetzte. Ohne diese Menschen wäre diese geistige Bewegung wirkungslos verpufft. Die katholische Kirche lehnte die aufklärerischen Ideen strikt ab. Trotzdem strahlte das freiheitliche Denken in unterschiedlicher Intensität auch in Regionen und Länder mit überwiegend katholischer Bevölkerung aus. Besonders intensiv war der kulturelle Austausch mit den Ländern, die an Deutschland angrenzen.
In seiner Schrift "Was ist Aufklärung?" bekannte sich Kant uneingeschränkt zum Ideal dieser Epoche. Zugleich war er einer ihrer Überwinder, insofern als er die Schulmetaphysik, die die englischen Deisten und Christian Wolff von der Scholastik übernommen hatten, zertrümmerte. Kant widerlegte die so genannten Gottesbeweise. Der "Alleszermalmende" wollte damit nicht das Metaphysische, den transzendenten, theistisch verstandenen Gott, bestreiten, sondern die dogmatische Methode, zum Metaphysischen hinzuführen. "Ich musste das Wissen zerstören, um Platz für den Glauben zu schaffen." Kants Beweisführung macht klar, dass das Denken, sei es Philosophie, sei es Naturwissenschaft, das Dasein Gottes und den Wahrheitsanspruch der Religion weder beweisen noch widerlegen kann. Damit erwies er der reformatorischen Theologie keinen schlechten Dienst. Denn Luther hatte die scholastische Metaphysik entschieden abgelehnt.
Die Aufklärung hatte eine Schwächung des religiösen Bewusstseins zur Folge, der spirituelle Bewegungen wie Pietismus und Methodismus nur teilweise entgegenwirken konnten. Nach anfänglichen Schwierigkeiten stellte sich die evangelische Theologie auf die veränderte Geisteslage ein. Nahezu in allen mitgliederstarken Kirchen der Reformation entstanden liberale Gruppierungen, die das Gespräch mit den Geistes- und Naturwissenschaften aufnahmen und beispielsweise die historisch-kritische Methode auf die Erforschung der Bibel und ihrer Bücher anwandten. In diesen Kirchen werden Frauen zum geistlichen Amt zugelassen, auch in höchste Führungspositionen. Trotz des Zweiten Vatikanischen Konzils verweigert die katholische Kirche Frauen nach wie vor den Zugang zum Priesteramt. Dasselbe gilt für die orthodoxen Kirchen.
Luther leistete einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung der Hermeneutik, die für das sachgemäße Verstehen von Texten und Kunstwerken unerlässlich ist. Er lehnte bei der Interpretation der Bibel die im Mittelalter übliche Lehre vom vierfachen Schriftsinn ab und ließ nur den Literalsinn gelten. Denn nur so ist ein Text gegen Um- und Fehldeutungen geschützt. Außerdem benutzte Luther den hermeneutischen Zirkel. Er gewann aus der Exegese einzelner Bibelstellen und biblischer Bücher ihre Kernaussage, wandte diese dann auf die Bibel als Ganze an und gelangte von dort wieder zu ihren Teilen und einzelnen Bibelstellen, anhand derer er den exegetischen Befund überprüfen konnte. Auf diese Weise erkannte Luther als Zentrum der biblischen Botschaft die Erlösung durch Jesus Christus ("was Christum treibet"), die dem Menschen "ohn' sein Verdienst und Würdigkeit" im Glauben zugeeignet wird. Von dieser Position aus fand Luther kritische Worte etwa über den Jakobusbrief, in dem er Ansätze zur "Werkgerechtigkeit" zu erkennen meinte. Damit war die Lehre der Verbalinspiration der Bibel für ihn unmöglich geworden. Dies wiederum erlaubte das Entstehen einer liberalen reformatorischen Theologie.
Bei aller Hochachtung vor den Leistungen der Aufklärung darf man dennoch ihre Grenzen und Schwächen sowie ihre offenkundigen sehr dunklen Stellen nicht verschweigen.
Eine Grenze war, dass es der Aufklärung nicht gelang, die Religion zu verdrängen, vor allem deshalb, weil die Philosophen der Aufklärung auf elementare Fragen nach dem Woher und Wohin der menschlichen Existenz nicht oder nicht in überzeugender Weise antworten konnten. Auch die ontologische Grundfrage blieb offen: Warum ist etwas, warum ist nicht nichts? Da zudem die Ethik der Aufklärung, was die Inhalte angeht, sich mit der biblisch-reformatorischen Ethik deckte, konnten weite Teile des protestantischen Bürgertums zu Trägern und Verwirklichern der aufklärerischen Gedanken werden. Die katholische Kirche verhielt sich, wie erwähnt, gegenüber der Aufklärung schroff abweisend. Auch zur Entstehung der Menschenrechte trug sie so gut wie nichts bei. Die von Lord Baltimore, einem Katholiken, in Maryland eingeführte Religionsfreiheit konnte sich dort nur deshalb erhalten, weil die benachbarten, von Protestanten geprägten Kolonien ebenfalls freie Religionsausübung gewährten. Es gab auf katholischer Seite zwei weitere erwähnenswerte Anläufe in Richtung Menschenrechte, die aber geschichtlich unwirksam blieben. Der Dominikaner Bartolomé de las Casas setzte bei Kaiser Karl V. durch, dass die unmenschliche Behandlung der Indiosklaven in Lateinamerika gemildert wurde. Doch diese Schutzgesetze wurden bereits 1545 wieder aufgehoben. Im "Jesuitenstaat" in Paraguay (1610 bis 1767) gab es weder Zwangsmissionierung noch Sklaverei. Diesem Projekt setzte die Kurie ein Ende, und Paraguay wurde dem Königreich Spanien zugeschlagen. (Zu Friedrich von Spee siehe unten)
Zur dunklen Seite der Aufklärung. Der Vorwurf, die Religion habe Kriege nicht verhindert, trifft auch die Aufklärung. Friedrich der Große, aufgeklärter Monarch, Freund und Verehrer Voltaires, gewährte seinen Untertanen Religionsfreiheit. Aber er führte Kriege, Angriffskriege. Seine Motive waren, ganz archaisch und der aufklärerischen Ethik zum Trotz, Machterhalt und Machterweiterung. Diese Politik wurde in Europa bis zu den beiden Weltkriegen beibehalten. Dass die Aufklärung nicht dagegen gefeit ist, in Irrationalität und Barbarei umzuschlagen, war schon in den Gräueltaten der Französischen Revolution zutage getreten. Marx sah sich als legitimen Erben der Aufklärung. Die Marxisten Lenin und Stalin opferten Millionen Menschenleben und beraubten unzählige andere der Freiheit und körperlichen Unversehrtheit, um, wie sie meinten, der Verwirklichung des Ideals der "klassenlosen Gesellschaft" näherzukommen. Der Nationalsozialismus benützte den Sozialdarwinismus - mit seinem naturwissenschaftlichen Anspruch ohne Zweifel ein Produkt aufklärerischen Denkens-, um nicht nur die "Notwendigkeit" des Zweiten Weltkriegs ("Recht des Stärkeren"; "Recht ist, was dem Volke nützt"), sondern auch die systematische Tötung von Juden, Sinti, Roma und des angeblich "lebensunwerten Lebens" zu begründen, in summa etwa 26 Millionen Tote. Manche Historiker sprechen sogar von 50 Millionen. Unzählige andere Menschen verloren Angehörige, Heimat oder Gesundheit oder alles zusammen. Unermessliche Vermögenswerte wurden vernichtet. "Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils", schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Exil in den Vereinigten Staaten, wohin sie mit Tausenden anderen Verfolgten des Naziregimes geflohen waren ("Dialektik der Aufklärung").
Dass es zu diesen Kriegen kommen konnte, war nicht nur dem Versagen des aufgeklärten Menschen geschuldet, sondern auch dem der Kirchen in Europa. Fels in der Brandung waren in beiden Weltkriegen die Vereinigten Staaten, die ihnen unter großen eigenen Opfern ein Ende setzten. Durch ihre enorme Wirtschaftskraft zwangen die USA auch die Sowjetunion und den Warschauer Pakt in die Knie und ermöglichten dadurch die Aufhebung der Spaltung Europas und die Verwirklichung der Demokratie in Osteuropa.
Fazit: Es ist intellektuell unredlich, sich aus der Aufklärung und ihren Auswirkungen nur das Positive herauszupicken ("Das verdanken wir der Aufklärung"; "Seit der Französischen Revolution ...") und das Negative unter den Tisch fallen zu lassen. Es widerspricht der Intention dieser geistigen Bewegung, sie ideolgisch zu verklären.
Dennoch hat die Aufklärung, obwohl sie durch den Deutschen Idealismus und die gesamteuropäische Bewegung der Romantik abgelöst wurde, zweifellos ihre außerordentlich großen und bleibenden Verdienste: die Stärkung der Menschenrechte im allgemeinen und der des Toleranzgedankens im besonderen sowie der unvoreingenommenen Erforschung der Wirklichkeit, die schon mit der Reformation im frühen 16. Jahrhundert beziehungsweise im naturwissenschaftlichen Bereich um etwa 1600 begonnen hatte.
Die Aufklärung war eine, wenn auch sehr wichtige Epoche der abendländischen Geistesgeschichte, die bis heute zutiefst von der jüdisch-christlichen Überlieferung bestimmt ist. "Der egalitäre Universalismus, aus dem die Ideen von Freiheit und solidarischem Zusammenleben, von autonomer Lebensführung und Emanzipation, von individueller Gewissensmoral, Menschenrechten und Demokratie entsprungen sind, ist unmittelbar ein Erbe der jüdischen Gerechtigkeits- und der christlichen Liebesethik" (J. Habermas).
An dieser Stelle muss kritisch auf einige Thesen eingegangen werden, die immer wieder in der Öffentlichkeit vertreten werden und die sich teils auf Calvin, teils auf den Protestantismus, teils auf Humanismus und Aufklärung beziehen.
Neben Calvins Prädestinationslehre wird oft die gewiss strenge Kirchenzucht im Genf seiner Zeit kritisiert. In Calvin aber den Vorläufer totalitärer Staaten oder des gegenwärtigen Regimes im Iran sehen zu wollen ist abwegig. Es gab weder in Calvins Genf noch irgendwo sonst im Protestantismus massenhafte Einkerkerung, Folter oder Hinrichtungen Andersdenkender. Der Protestantismus kannte nie etwas, was auch nur entfernt mit der Inquisition vergleichbar gewesen wäre. (Beispielsweise betrachtete das deutsche Luthertum Katholiken nicht als Ketzer. In lutherischen Territorien wurden sie geduldet, sofern sie sich ruhig verhielten. Andererseits waren noch für Pius X. alle Protestanten Häretiker.) Zwar wurden in der Frühzeit Andersgläubige nicht selten diskriminiert oder drangsaliert, gelegentlich auch zum Auswandern gezwungen, aber zu Hinrichtungen aus religiösen Gründen kam es nur in wenigen Einzelfällen, z.B. Thomas Morus und Michael Servet, unter dessen Todesurteil auch Calvins Unterschrift steht. Der spanische Arzt und Theologe war, da er die Trinitätslehre leugnete, vor der Inquisition aus Frankreich nach Genf geflohen. Die Ablehnung der altkirchlichen trinitarischen und christologischen Dogmen war im 16. Jahrhundert für Katholiken, Orthodoxe, Lutheraner, Reformierte und Anglikaner ein ungeheures Sakrileg, gleichbedeutend mit Atheismus. Die Reformierten waren und sind sich der geschichtlichen Schuld bewusst, die Servets Hinrichtung bedeutet. Deshalb wurde zu seinen Ehren 1903 in Genf eine Gedenktafel enthüllt. Wollte man dasselbe für alle namenlosen Opfer der Inquisition tun, müsste man allein in Südfrankreich einige tausend Denkmäler errichten. Denn dort war das Zentrum der Albigenser, Katharer, Waldenser und später der Hugenotten. In Spanien, wo die Inquisition eine staatliche Einrichtung war, in Portugal und ihren überseeischen Kolonien ging die Zahl der mit großem Pomp gefeierten Autodafés (portug. "Akte des Glaubens") in die Zehntausende. Die Opfer waren Juden, Muslime (Moriscos), "Lutheranos", Indios und indische Christen (portugiesische Kolonie Goa). In katholischen Ländern war die Inquisition bis ins 19. Jahrhundert tätig (Spanien 1834, Portugal 1820). Da nur ein Bruchteil der Prozessakten oder anderer Quellen erhalten blieb, kann es für die Zahl der Opfer der Inquisition in ihrer rund 600 Jahre währenden Geschichte nur grobe Schätzungen geben. Wahrscheinlich war diese kirchliche Einrichtung für mehrere hunderttausend Todesopfer verantwortlich. Beispielsweise wurde die Zahl der allein von der Spanischen Inquisition zwischen 1481 und 1530 getöteten Menschen auf 1.500 bis 12.000 geschätzt. Sehr viele andere, die ihre Kerkerhaft überlebten, waren körperlich und seelisch gebrochen. Sie mussten zudem in der Öffentlichkeit das strigmatisierende "Büßerhemd" tragen (Artikel "Inquisition").
Seit ihrer Gründung Anfang des 13. Jahrhunderts übte die Inquisition auch die Bücherzensur aus. Nach dem Konzil von Trient übernahm diese Aufgabe der Index librorum prohibitorium, auf dem unter vielen anderen auch die Werke von Heinrich Heine standen, nicht aber Hitlers "Mein Kampf".
Die "Einheit der Kirche" war nie geschichtliche Realität. Schon das Urchristentum war tief gespalten, was nur mühselig überbrückt werden konnte. Die Judenchristen unter Führung von Petrus, Johannes und Jakobus, einem leiblichen Bruder Jesu, forderten, auch Heidenchristen müssten die rituellen Vorschriften des Judentums, vor allem Beschneidung sowie Speisegebote und -verbote, einhalten. Die Heidenchristen, angeführt von Paulus, lehnten dies vehement ab, da dadurch der Glaube an Christus an Vorbedingungen geknüpft würde, die den Glauben zu einem menschlichen Werk degradieren würden. Das war für Paulus der status confessionis. Leidenschaftlich vertrat er auf dem so genannten Apostelkonzil in Jerusalem seine theologische Auffassung - und setzte sich durch. Man einigte sich, dass er und seine Mitarbeiter unter den Heiden missionieren sollten, ohne ihnen rituelle Auflagen zu machen, die Judenchristen sollten dagegen das Evangelium den Juden predigen. Das waren zwei grundverschiedene Konfessionen, schon am Anfang der Kirchengeschichte. Das einzige, sehr dünne Band zwischen ihnen war das Versprechen des Paulus, in den von ihm gegründeten Gemeinden Geld zu sammeln und der armen judenchristlichen Gemeinde in Jeruslam zu schicken (Galater 2). An diese Zusage hielt er sich gewissenhaft. Hätten die Judenchristen in dieser Kontroverse die Oberhand gewonnen, wäre das junge Christentum eine kleine jüdische Sekte geworden und genauso rasch wieder von der Bildfläche verschwunden wie das Judenchristentum selbst. Paulus musste sich außerdem immer wieder mit gnostischen Weisheitslehrern auseinandersetzen, die in "seine" Gemeinden eindrangen, wenn er weitergereist war. Später, in der Alten Kirche, rangen eine fast unübersehbare Zahl größerer und kleinerer Gruppen sowie einzelne prominente Theologen um die richtigen theologischen Formulierungen. Sehr oft belegten sich die Kontrahenten gegenseitig mit formellen Verfluchungsworten (Anathema) und sprachen einander das Christsein ab. Die hauptsächlichsten Streitthemen waren die Christologie, die Trinitätslehre, der Gebrauch von Ikonen, die Kirchenverfassung und die Rechtfertigungslehre. Die Arianer waren lange Zeit ein ernsthafter Konkurrent für die Kirchen in Rom und Byzanz. Nach jahrhundertelangen heftigen Streitigkeiten trennten sich Ost- und Westkirche im Jahr 1054 endgültig. Spätestens jetzt war offenkundig, dass es die "Einheit der Kirche" nicht gab. Einer der Hauptgründe für das Schisma war der Anspruch der Päpste, Oberhaupt der ganzen Christenheit zu sein. Das kam und kommt für die orthodoxen Christen nicht in Frage. Im Hochmittelalter spalteten sich Albigenser, Katharer und Waldenser von der römischen Kirche ab. Vom 12. bis 14. Jahrhundert wurden sie in mehreren Kriegen ("Kreuzzügen") vernichtet. Nur einige kleine Waldensergemeinden überlebten in abgelegenen Alpentälern. Auch andere Gruppierungen wurden verfolgt, z.B. der Templerorden, Beginen und Begarden. Johannes Hus wurde 1415 verbrannt, die Hussiten blutig verfogt. Soweit es im westlichen Europa die "Einheit der Kirche" gab, wurde sie zweifellos durch Zustimmung einer großen Mehrheit der Gläubigen zur Kirchenlehre aufrechterhalten, aber auch durch Androhung und Anwendung psychischer und physischer Gewalt. Der mittelalterlichen Kirche waren die Lehren die Katharer der Inbegriff der Häresie. Das Wort "Ketzer" ist von "Katharer" (griech. der "Reine") abgeleitet.
Gewiss wurde nicht nicht nur in der katholischen Kirche, sondern auch bei den Protestanten beträchtlicher gesellschaftlicher Druck auf Gemeindeglieder ausgeübt, die sich mit der Kirchenlehre oder ethischen Vorschriften schwertaten. Wegweisend war aber, dass in Luthers und Calvins Theologie von Anfang an auch starke Elemente individueller Freiheit wirksam waren. Eine von Luthers Hauptschriften kreist um den Begriff "Freiheit" ("Von der Freiheit eines Christenmmenschen", 1520). Für Calvin waren bestimmte Rechte des Einzelnen unantastbar: Leben, persönliche und Bekenntnisfreiheit, Eigentum. Und: "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen." In den Jahrzehnten nach Luthers und Calvins Tod verstärkten sich diese freiheitlichen Tendenzen, insbesondere in Nordamerika, und führten zu den geschilderten Entwicklungen. Vielfältige Zwänge gibt es auch in einer säkularen Welt (z.B. Konsum, Mode, Zeitgeist, Arbeitswelt).
Die Menschenrechte entstanden nicht alle auf einen Schlag. Das ist nicht verwunderlich, da jahrtausendealte, tief verwurzelte Überzeugungen verändert werden mussten. Die Bereiche, die sich Neuerungen gegenüber als besonders resistent erwiesen, waren so verschieden wie die Gleichstellung der Frau (z.B. im Wahlrecht), die Todesstrafe (bis heute umstritten), die Sklaverei und der Hexenglaube. Letzterer wurde durch die Reformatoren nicht beseitigt. Immerhin ging jedoch der Impuls dazu ebenfalls vom Protestantismus aus. Der Erste, der sich öffentlich gegen die Hexenprozesse aussprach, war der evangelische Arzt Johannes Weyer (1515-1588). Auch dieser Protest ging also zeitlich der Aufklärung weit voraus. Im 17. Jahrhundert griff der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1635) dieses Thema wieder auf, ein wichtiger katholischer Beitrag zur Entstehung der Menschenrechte. Allerdings waren in der katholischen Welt besonders viele so genannte Hexen und Zauberer hingerichtet worden. Der letzte Hexenbrand auf dem Boden des Deutschen Reichs war 1775 im Kempten, einem geistlichen Territorium. Der preußische Jurist Christian Thomasius (1655-1728) kämpfte gegen die Folter. Sie wurde 1740 in Preußen verboten, die anderen deutschen Länder folgten.
Die Abschaffung der Sklaverei war ein weiterer wesentlicher Schritt in der Ausgestaltung der Menschenrechte. Aufklärerische Ideen spielten dabei zwar eine gewisse Rolle in Teilen der geistigen Eliten der USA und Europas. Ausschlaggebend war aber, dass sich bei einer Mehrheit der Bevölkerung im Norden der Vereinigten Staaten zunehmend die Erkenntnis durchsetzte, dass Sklaverei nicht mit dem christlichen Glauben vereinbar ist. (Der Apostel Paulus nennt im Philemonbrief den entlaufenen Sklaven Onesimus "meinen lieben Bruder".) Eine außerordentlich wichtige Funktion in diesem Erkenntnisprozess hatte der Roman "Uncle Tom's Cabin" (1852) von Harriet Beecher-Stowe, einer frommen Frau, Tochter eines presbyterianischen Theologen. In England war die Sklaverei 1834 verboten worden. In dem Abolitionist Movement hatten sich vor allem Methodisten und Angehörige anderer Freikirchen stark engagiert. Wie bei der Unabhängigkeit von den früheren Kolonialmächten folgten die Staaten Lateinamerikas auch bei der Sklavenbefreiung dem nordamerikanischen Beispiel mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung.
Die These, Humanismus und Aufklärung hätten die Demokratie und die Menschenrechte geschaffen, lässt sich nicht halten. Die Künstler der Renaissance und die Gelehrten des Humanismus hatten sich zwar einen gewissen Freiraum innerhalb der Kirche geschaffen, aber sie hatten weder die Absicht noch die theologischen Mittel, um die katholische Kirche grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Humanisten bildeten eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Gelehrten, die einen begrenzten Einfluss auf das gebildete städtische Bürgertum und Teile des Adels hatten, nicht aber auf Bauern und Handwerker, die die bei weitem größten Bevölkerungsteile ausmachten. Zudem war den Humanisten das Schicksal von Johannes Hus und der Hussiten Warnung genug, sich in ihrer Kritik an der Kirche nicht über eine recht eng gezogene Grenze hinauszuwagen (z.B. sexuelle Laxheit in Teilen des Klerus). Die Inquisition hatte ihre Augen und Ohren überall. Den radikalen Bruch mit der Kirche konnte nur die Reformation vollziehen. Als sie begann, löste sich die Gruppe der Humanisten auf. Die meisten schlossen sich der neuen Bewegung an (Melanchthon, Bucer, Hutten, Zwingli, Calvin, Oekolampad, Beza, Castellio u.a.), die anderen blieben katholisch, z.B. Reuchlin, Erasmus, Pirkheimer und Morus. Letzterer war für Toleranz eingetreten, aber als Lordkanzler Heinrichs VIII. befahl er in voller Überzeugung, das Richtige zu tun, die Verbrennung einer ganzen Anzahl von Protestanten. Eine eigenständige "humanistische Ethik", auf die in der Öffentlichkeit immer wieder Bezug genommen wird, gab es nie. Durch ihre Gelehrsamkeit halfen die Humanisten beiden Kirchen sehr.
Falsch ist die These, Frankreich sei "das Mutterland der Menschenrechte". Denn zur selben Zeit, als in Nordamerika Puritaner und andere Protestanten aus biblisch-reformatorischer Überzeugung der katholischen Minderheit die freie Ausübung ihrer Religion zubilligten und in England und Deutschland die bewaffneten konfessionellen Konflikte längst geendet hatten (1648 bzw. 1689), führten die katholischen Könige Frankreichs Kriege gegen die evangelische Minderheit in ihrem Land. Den Besiegten wurde auf königlichen Befehl die gefürchtete Dragonade aufgezwungen: In die Häuser der Hugenotten wurden Soldaten (Dragoner) einquartiert, die insbesondere Frauen und Mädchen so lange brutal terrorisierten, bis die Verzweifelten bereit waren, katholisch zu werden. Viele evangelische Männer wurden zum Sklavendienst auf Galeeren verurteilt. In den Jahren 1724 und 1743 bis 1752 ereigneten sich noch einmal furchtbare Verfolgungen. Besonders ein Justizskandal empörte viele Menschen in Europa. In Toulouse beschuldigten 1762 die Behörden den Hugenotten Jean Calas, einen seiner Söhne ermordet zu haben, weil dieser angeblich katholisch werden wollte. Der junge Mann hatte aber nachweislich Selbstmord begangen. Obwohl Voltaire kein Freund der Hugenotten war, machte er den Fall in ganz Europa publik. Trotzdem wurde Calas verurteilt und zu Tode gefoltert. Sein Leichnam wurde verbrannt. Immerhin erreichte Voltaire, dass Calas posthum rehabilitiert wurde. Auswandern war den Hugenotten bei Todes- oder Galeerenstrafe verboten. Nur etwa einer halben Million gelang die Flucht ins evangelische Ausland. Rechtssicherheit erhielten die Hugenotten erst 1787, zwei Jahre vor der Französischen Revolution. Diese verriet ihrerseits durch ihre Schreckensherrschaft die eigenen Ideale. Selbst die Revolutionärin, die für sich und alle anderen Frauen ebenfalls Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichket forderte, starb auf der Guillotine. "Die Revolution ist wie Saturn, sie frisst ihre eigenen Kinder" (G. Büchner in "Dantons Tod"). Das Mutterland der Menschenrechte ist nicht Frankreich, es sind die Vereinigten Staaten.
So weit der Exkurs und zurück zu den Vereinigten Staaten des 18. Jahrhunderts. Dort begünstigten einige weitere Faktoren das Erstarken der demokratischen Strukturen, der Menschenrechte, von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik.
Die Verfassung von 1787 legte die Grundsätze der amerikanischen Demokratie fest. Sie war die erste schriftlich fixierte Verfassung der Welt und diente später vielen Staaten als Vorbild, so auch den deutschen Revolutionären von 1848, den Autoren der Weimarer Verfassung und den Vätern und Müttern des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Grundlegend ist neben der föderalen Struktur und der Herrschaft des Rechts ein System, durch das sich Legislative, Exekutive und Judikative gegenseitig kontrollieren und ausbalancieren ("Checks and Balances"). Es greift auf das Prinzip der Gewaltenteilung zurück, das die Philosophen Locke und Montesquieu aus einer Analyse der englischen Staatsverfassung ihrer Tage abgeleitet hatten. Die ersten zehn Zusätze zur Verfassung ("Bill of Rights"; 1791; nicht zu verwechseln mit der englischen Bill of Rights) enthalten fundamentale Menschen- und Bürgerrechte, unter anderem die strikte Trennung von Kirche und Staat. Nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs (1861 bis 1865) wurden die Sklaven in den Südstaaten befreit. Sie dürfen seit 1870 an Wahlen teilnehmen. Frauen haben seit 1920 das aktive und passive Wahlrecht.
Ohne Zweifel gibt es in der Geschichte und Gegenwart der Vereingten Staaten eine ganze Reihe sehr dunkler Kapitel, etwa der Umgang mit der indianischen Urbevölkerung, die Sklaverei, der anhaltende Rassismus, der Vietnamkrieg, Abu Grebh und Guantánamo. Aber das Positive überwiegt bei weitem, und die Amerikaner haben stets die Kraft gehabt, aus ihren Fehlern zu lernen und zu ihren Idealen zurückzufinden. Beispielsweise verdankt die UN-Menschenrechtserklärung (1949) ihr Entstehen hauptsächlich dem unermüdlichen Engagement von Präsident Franklin D. Roosevelt und seiner Frau Eleanor Roosevelt.
Trotz der verfassungsmäßigen Trennung von Staat und Kirche spielt in den Vereinigten Staaten das Religiöse eine starke Rolle in der Öffentlichkeiut, weit mehr als in Europa. Der Präsident legt seinen Amtseid, der mit den Worten endet "So help me God", auf eine Bibel ab. Auf jeder Dollarnote steht "IN GOD WE TRUST". Der Kongress und die Streitktäfte haben vom Staat bezahlte Geistliche (chaplains). Das Lied "God save America" ist fast eine zweite Nationalhymne. Nicht wenige Politiker schließen wichtige Reden mit den Worten "May God bless you" oder "God bless America". Wie dominierend der Protestantismus nach wie vor im amerikanischen Leben ist, zeigt sich etwa daran, dass von 44 Präsidenten nur einer katholisch war (Kennedy).
In Europa verlief die Entwicklung hin zu Demokratie und Menschenrechten sehr viel komplizierter und sehr viel langsamer. Während der Herrschaft Cromwells bestand in England für einige Jahre keine Monarchie, dasselbe war in Frankreich während der Revolution der Fall, die jedoch in einem Meer von Blut unterging und ihre ethischen Postulate Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit in ihr krasses Gegenteil verdrehte. Aus dem Chaos in Frankreich erhob sich Napoleon, der sich zum Kaiser krönte, eine eigene Dynastie gründete und fast ganz Europa mit Krieg überzog. Aus den Freiheitskriegen und dem Wiener Kongress gingen die feudalen Mächte gestärkt hervor.
"Amerika, du hast es besser / als unser Kontinent, der alte", dichtete Goethe im Jahr 1827. Seit in den Vereinigten Staaten eine demokratische Republik bestand, beschäftigte sie in Europa Dichter und Denker, aber auch einfache Menschen aus dem Volk, die sich nach Gleichberechtigung und gesellschaftlicher und politischer Freiheit sehnten. Männer wie Schiller und Hölderlin hatten den Beginn der Französischen Revolution enthusiastisch gefeiert, waren aber von ihrem Verlauf und Ende bitter enttäuscht. Auch in den anderen europäischen Ländern wandte man sich angewidert von der Revolution in Frankreich ab. Ähnlich erging es Beethoven einige Jahrzehnte später mit Napoleon. Die Revolution von 1848 wurde von den Kräften der Restauration niedergeschlagen. Erst in einem lange währenden, schmerzhaften Prozess übernahmen die Staaten des alten Kontinents nach und nach, was in den Vereinigten Staaten seit 1776 Wirklichkeit war. In England war zwar schon im 13. Jahrhundert die Macht des Königs bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt worden, aber die Nutznießer waren fast ausschließlich die Angehörigen des Adels. Die Geschichte des britischen Parlamentarismus war lang und wechselvoll, doch erst zur Zeit von Königin Viktoria gingen schließlich alle politischen Rechte der Monarchie auf die beiden Häuser des Parlaments über. (Es dauerte noch einmal fast 100 Jahre, bis die gesamte politische Macht vom nicht gewählten Oberhaus auf das Unterhaus übertragen wurde.) Die skandinavischen Länder, die Niederlande, Belgien und Griechenland wurden etwa zur selben Zeit ebenfalls konstitutionelle Monarchien. Trotz der Revolution von 1789 entstand in Frankreich erst nach mehreren Anläufen in der heutigen Fünften Republik eine dauerhafte Demokratie. Deutschland, Österreich und Italien folgten 1945. Am spätesten setzte sich im westlichen Europa diese Staatsform auf der Iberischen Halbinsel durch (Portugal 1976, Spanien 1978). Die Schweiz ist seit Jahrhunderten demokratisch. Jedoch diente sie den europäischen Staaten nicht als Vorbild, da man unter anderem das kantonale System und die Formen der direkten Demokratie nicht auf einen großen Flächenstaat übertragen zu können glaubte.
Die Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen sprechen der demokratischen Staatsform und den Menschenrechten universale Gültigkeit zu. Seit dem Ende der Kolonialzeit, der Sowjetunion und des Warschauer Pakts befinden sich viele Staaten in aller Welt in einem Prozess der Demokratisierung, der unterschiedlich weit fortgeschritten ist. Die früheren britischen Kolonien Kanada, Australien und Neuseeland, aber auch Indien und Japan sind gefestigte Demokratien. (Japan hatte sich 1854 westlichen, vor allem amerikanischen Einflüssen geöffnet, nicht aber in verfassungsrechtlicher Hinsicht. Die nahezu unumschränkte Machtfülle des Tenno (Kaiser) war bis 1945 erhalten geblieben.)
Arbeit, Wirtschaft und Handel
Von außerordentlicher Bedeutung für das Entstehen und die weitere Entwicklung von Neuzeit und Moderne war die Einstellung der Reformatoren zur Arbeit. Sie verstanden Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten Luther und Calvin als nicht im Neuen Testament bezeugt ab. Sie verwarfen Müßiggang, Betteln, Zinsmissbrauch und Wucher, wobei Calvin dem Handel und der Wirtschaft eine größere Gestaltungsfreiheit einräumte als Luther. Das lag wohl zum Teil daran, dass in Genf diese Wirtschaftszweige stärker ausgebildet waren als in den vor allem agrarisch strukturierten Gebieten, die sich Luthers Reformation anschlossen. Von größter Tragweite war, dass Calvin den überkommenen Zusammenhang zwischen dem aus wirtschaftlicher Tätigkeit erzielten finanziellen Gewinn und einem luxuriösen Lebensstil zerbrach. Für die Reformatoren folgt aus der durch Christus geschehenen Erlösung eine Lebensführung, die Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus. Dadurch wird es möglich, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Maschinen und Herstellungsmethoden investiert werden können. Auf diese Weise stärken sich Wirtschaft, Naturwissenschaft und Technik wechselseitig. Dies führt - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerkersmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden müssen, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls bricht der Wirtschaftskreislauf zusammen. Gleichzeitig ermöglichen es vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern. Das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit führte ab dem 19. Jahrhundert zur Gründung von Gewerkschaften, die die Interessen der Arbeitnehmer vertreten.
Max Weber ("Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus", 1934) hat insofern recht, als der Kapitalismus in der Tat im Puritanismus entstand, wenn dieser auch schon mehr oder weniger stark verweltlicht war. Auch als das religiöse Bewusstsein schwächer wurde, blieben diese Verhaltensweisen gegenüber Arbeit und Wirtschaft erhalten. Die geschichtliche Erfahrung zeigt, dass der viel geschmähte Kapitalismus das einzige Wirtschaftssystem ist, das auf Dauer das Masseneinkommen steigern kann. Andernfalls würde etwa die Kommunistische Partei Chinas nicht auf dieses System setzen, und zwar mit großem Erfolg. Allerdings bedarf der Kapitalismus einer starken sozialen Komponente, damit er sich nicht selbst zugrunde richtet und von der Mehrheit der Menschen dauerhaft akzeptiert wird. Luthers und Calvins Verbot von Wucherzinsen zeigt, dass sich eine kleine Gruppe von Kapitaleignern nicht durch exzessive Habgier auf Kosten der Allgemeinheit bereichern darf. Die in Deutschland praktizierte Soziale Marktwirtschaft ist eine Spielart des Kapitalismus.
Naturwissenschaft und Technik
Luther und Calvin legten größten Wert darauf, dass alle Gemeindeglieder in die Lage versetzt wurden, die Bibel selbständig zu lesen. Deshalb förderten die Reformatoren und der Protestantismus das Bildungswesen, von der Volksschule über die Lateinschule bis zur Universität. Besipielsweise gründeten die Pilgerväter (Kongregationalisten) bereits 1636 Harvard College, gerade einmal 16 Jahre nach der Landung in Massachusetts. Yale folgte 1701, Princeton 1746.
Das Entstehen der neuzeitlichen Naturwissenschaft im westlichen Teil des Abendlands beruht auf einer religiös-weltanschaulichen Voraussetzung: Die durch den biblischen Glauben entmythisierte Weltsicht befreit den Menschen, die Wirklichkeit unvoreingenommen zu erkunden und zu gestalten. Diese Entmythisierung wird exemplarisch deutlich im ersten Schöpfungsbericht (1. Mose 1): Sonne und Mond sind nicht wie in fast allen anderen Religionen Götter, sondern der jenseits der Welt stehende Schöpfer hat sie als "Lampen" erschaffen (V. 16-18), damit sie die Erde am Tag bzw. in der Nacht erleuchten. An diesem Punkt setzten ab dem 16. Jahrhundert die Forschungsarbeiten von Koperikus, Galilei, Brahe, Kepler, Newton und anderer Naturwissenschaftler an. Sie schufen die Grundlagen der modernen Naturwissenschaft. Die Beeinflussung durch das philosophische Denken des antiken Griechenlands spielte dabei lediglich eine untergeornedte Rolle. Dieses war schon im Mittelalter aufgegriffen und tradiert worden, da es die Welt in ähnlicher Weise entmythisiert wie der biblische Glaube.
Das Verhältnis der reformatorischen Kirchen zur Naturwissenschaft ist weder durch einen Fall Giordano Bruno noch durch einen Fall Galilei belastet. Obwohl Luther wie fast alle seine Zeitgenossen das heliozentrische Weltbild ablehnte - Kopernikus konnte die Erdrotation nicht beweisen - und obwohl es etwa im 19. Jahrhundert eine heftige Kontroverse über die Evolutionstheorie gab, war der Protestantismus unbefangen gegenüber naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und technologischen Neuerungen. Deshalb nahmen in den protestantischen Ländern nicht nur die Geisteswissenschaften, sondern fast noch mehr die Naturwissenschaften einen großen Aufschwung, und in ihrem Gefolge entstand eine Flut von immer neuen technischen Errungenschaften. Der Schotte James Watt baute die erste leistungsfähige Dampfmaschine (1765), die die Industrialisierung ermöglichte. Die weitaus meisten bahnbrechenden naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Erfindungen wurden und werden im protestantischen Raum gemacht. Von dort stammt die große Mehrzahl der Nobelpreisträger in den naturwissenschaftlichen Fächern und der Wirtschaftswissenschaft. Die englische Universität Cambridge allein hat bislang rund 80 Nobelpreisträger hervorgebracht. Diese begehrtesten Auszeichnungen für herausragende Leistungen werden in zwei lutherischen Ländern vergeben.
Die Reformatoren nahmen den Schöpfungsauftrag ernst, demzufolge der Mensch als Gottes Mandatar sich "die Erde untertan machen" soll (1. Mose 1, 28). Dies bedeutet aber keinesfalls die Erlaubnis, Teile der Schöpfung zu zerstören. Es verstößt gegen die Intention dieses Textes, wenn man ihn so verstehen wollte, dass der Schöpfer zunächst höchst planvoll und liebevoll die Welt Schritt für Schritt erschafft, dann aber einem der Geschöpfe den Auftrag gibt, seine gute Schöpfung teilweise wieder zugrunde zu richten, zumal nach 1. Mose 2, 15 der Garten Eden "bebaut und bewahrt", also nachhaltig bewirtschaftet werden muss. Hinter der Formulierung, sich die Erde untertan zu machen, steht das antike Ideal vom gerechten König, der seine Machtfülle einzig und allein zum Wohlergehen seiner Untertanen einsetzt (G. von Rad: Das erste Buch Mose). Zweifellos wurde und wird das Dominium Terrae immer wieder als Deckmantel für nackte Habgier missbraucht. Dies ist nicht zu billigen. Raubbau an der Natur ist allerdings nicht auf den christlichen Kulturkreis beschränkt. Man denke zum Beispiel an die Zerstörung riesiger Wälder rings um das Mittelmeer in der griechisch-römischen Antike, auf den Osterinseln oder heute in Indonesien. Eine Fundamentalkritik an der Industrialisierung, ihren kulturellen Voraussetzungen und ihren Folgen ist unangebracht. Die Rückkehr zu einer vorindustriellen Wirtschaftsweise ist schon wegen der starken Zunahme der Weltbevölkerung unmöglich.
Soziale Verantwortung
Luthers und Calvins Geist ist auch auf sozialem, humanitärem und diakonischem Gebiet kräftig zu spüren. Im 18. und 19. Jahrhundert engagierten sich insbesondere britische Methodisten, Baptisten und Angehörige anderer Freikirchen (Free Churches) stark in sozialen Fragen, z.B. Sklavenbefreiung und Gewerkschaften. Gruppen wie etwa die Heilsarmee nahmen sich der Obdachlosen und Entwurzelten an. Überall im Bereich der reformatorischen Kirchen entstanden Krankenhäuser und diakonische Einrichtungen, die sich bis heute um Kranke und Behinderte kümmern. In Deutschland waren das Persönlichkeiten wie J.H. Wichern und F. von Bodelschwingh. Das Genossenschaftswesen entstand in Großbritannien. In Deutschland gründeten der überzeugte reformierte Christ Friedrich Wilhelm Raiffeisen und der Preuße Hermann Schulze-Delitsch Genossenschaften, die der verarmten ländlichen und städtischen Bevölkerung eine außerordentliche Hilfe waren. Heute sind Genossenschaften in den Entwicklungs- und Schwellenländern unverzichtbar. Ein anderer evangelischer Preuße, Bismarck, schuf die moderne Sozialversicherungsgesetzgebung. Das Rote Kreuz wurde von dem pietistisch frommen Reformierten Henri Dunant ins Leben gerufen. Er hatte als junger Mann in seiner Vaterstadt Genf eine Ortsgruppe des CVJM gegründet. Seiner Initiative verdankt auch die Genfer Konvention ihr Entstehen.
Insbesondere im angelsächsischen Raum blüht das Stiftungswesen. Die großen privaten Universitäten wie Harvard, Yale, Princeton oder Stanford verfügen jeweils über ein riesiges Stiftungsvermögen. Zum Beispiel stifteten D. Rockefeller sen., der ein aktives Mitglied seiner Baptistengemeinde war, und sein Sohn Milliarden für religiöse, gemeinnützige und wissenschaftliche Zwecke. Bill Gates und seine Frau überführten den größten Teil ihres Vermögens in eine Stiftung, die humanitäre Ziele verfolgt.
Ohne Luther und Calvin, ohne die Puritaner und die anderen Protestanten wäre Nordamerika auf dieselbe oder doch eine sehr ähnlich Weise kolonisiert worden wie Lateinamrika. Spanier und Portugiesen brachten mit sich eine Feudalordnung, die aufs Engste mit der katholischen Kirche verknüpft war. Daran hat sich trotz der Sozialenzykliken mehrer Päpste nichts Wesentliches geändert. Die Folgen sind, verglichen etwa mit den Vereinigten Staaten, starke Defizite in politischer Stabilität, sozialem Ausgleich, Wirtschaftskraft und wissenschaftlich-technischer Kompetenz. Die wirtschaftlichen Unterschiede sind so gravierend, dass die USA gezwungen sind, ihre Grenze zu Mexiko massiv zu schützen, um Abermillionen von Lateinamerikanern daran zu hindern, illegal in ihr Gelobtes Land einzuwandern.
Die durch Luther und Calvin geprägten Länder sind die skandinavischen Staaten, Großbritannien und seine früheren Kolonien Vereinigte Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland. Hinzu kommen die Länder, die etwa zu einem Drittel oder zur Hälfte eine lutherische oder reformierte Bevölkerung haben: die Niederlande, die Schweiz, Deutschland. Sie alle zeichnen sich aus durch ein außerordentlich hohes Maß an Offenheit, freiheitlichem Geist, Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, politischer Stabilität, sozialer Verantwortung sowie wirtschaftlicher und wissenschaftlicher Innovationskraft. Diese Faktoren bedingen und verstärken sich gegenseitig durch positive Rückkopplung. Sie haben die Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert zur Weltmacht aufsteigen lassen. Diese Stärken der protestantischen Welt kommen der ganzen Menschheit zugute. Sie haben das alltägliche Leben der Menschen insbesondere in den Industrienationen so stark durchdrungen, dass sie von vielen als Selbstverständlichkeiten wahrgenommen werden. Politische und persönliche Freiheit, ständig neue technische und medizinische Errungenschaften, die das Leben der Menschen erleichtern und verlängern, sind jedoch nicht aus sich selbst heraus entstanden. Sie bedurften der großen geistigen Weichensteller und Gestalter.
Infolge ihrer umfassenden, weltweiten und andauernden Wirkung sind Luther und Calvin die bedeutendsten, da einflussreichsten Persönlichkeiten der letzten 500 Jahre. Sie sind unter anderem die geistigen Väter der neuzeitlichen Demokratie und der Menschenrechte.
Literatur
Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik. 10 Bände, 1932-1955
Bizer, Ernst: Fides ex auditu. 1958
Brunner, Emil: Dogmatik. 2 Bände, 1946, 1950
Bultmann, Rudolf: Theologie des Neuen Testaments. 1958
Calvin, Johannes: Institutio religionis christianae. 1559; Deutsch: Calvins Institutio, 2. Auflage, 1955
von Rad, Gerhard: Theologie des Alten Testaments. 1958
von Rad, Gerhard: Das erste Buch Mose. 5. Aufl., 1958
Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage, 1998 ff.
Ende Textspende
- Dieser Text ist in der Form keinesfalls für den Artikel geeignet und außerdem frage ich mich, ob hier vielleicht eine Urheberrechtsverletzung vorliegt. -- Muck 18:39, 2. Dez. 2009 (CET)
Überarbeitung der vorstehenden Textspende
Hallo, Muck, wie einer der früheren Diskussionsteilnehmer bin auch ich der Meinung, dass der Abschnitt über Calvins Theologie ("Lehre") mehr als dürftig und der Sache in keiner Weise angemessen ist. Deshalb biete ich die folgende, selbst verfasste Textspende an. Ich schlage vor, den bisherigen Text entfallen zu lassen. Ich habe seine zentralen Gedanken in die Textspende eingearbeitet. Gruß Martin Wolfangel 17. März 2010, 15:58 Uhr
Calvin war als Reformator der zweiten Generation theologisch von Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer abhängig. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio Christianae religionis" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah er ganz Europa. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz und unterrichtete Tausende Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 gegründete Akademie in Genf strömten (3).
Calvin traf in Genf auf eine weithin paganisierte (neuheidnische) Gesinnung. Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging. Nach seiner Auffassung gewinnt der Mensch zwar aus der Betrachtung von Natur, Geschichte und seiner selbst eine gewisse Gotteserkenntnis, aber er ist zugleich Sünder, der fern von Gott ist. Deshalb ist er darauf angewiesen, dass Gott sich ihm durch sein Wort, in dessen Zentrum Christus steht, zu erkennen gibt. Dies geschieht sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, wenn auch auf verschiedene Art und Weise (Luthers sola scriptura, allein die Schrift). Calvin fogt dem Kirchenvater Augustin in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur dieser selbst überwinden kann. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebt durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenkt dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. (Calvin denkt streng trinitarisch.) Damit ist der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). "Das Leben im Glauben ist nach Calvin gekennzeichnet durch Buße, Selbstverleugnung, Gebet, Betrachtung des zukünftigen Lebens und steht in allem" unter der christlichen Freiheit (Otto Weber (4)).
Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Dieses ist wirksames Zeichen. In ihm ist Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig und wirksam ("Spiritualpräsenz")( 5). Die Predigt hat sakramentalen Charakter, denn sie macht den Glaubenden der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig (Luther: Fides ex auditu, der Glaube kommt aus dem Hören (6). Deshalb konnte das Abendmahl im reformierten gottesdienstlichen Geschehen zurücktreten. In Genf wurde es viermal im Jahr gefeiert. Das Innere der Kirchen war betont schlicht gehalten, um die Menschen nicht vom Wesentlichen - Schriftlesung, Predigt, Gebet, gemeinsames Singen - abzulenken. Calvin förderte das Kirchenlied, hauptsächlich Psalmen, die in Strophen- und Versform gebracht und vertont wurden (7).
Calvins Prädestinationslehre betont, dass der Glaube Gottes unverdientes Geschenk ist (sola gratia, allein aus Gnade). Gottes freie Gnadenwahl ist sein Geheimnis. Gewissheit der Erwählung findet der Mensch nicht in sich selbst, sondern allein im Blick auf Jesus Christus. Trotz seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über Gottes Willen erlag Calvin doch dieser Versuchung, indem er als logisches Gegenstück zur Erwählung der einen Menschen die Verdammnis der anderen lehrte ("doppelte Prädestination") (8).
Die Kirche ist für Calvin die "Mutter" der Glaubenden. Denn in der Kirche begegnen ihnen die Predigt des Wortes Gottes und die Sakramente. Calvin war es wichtig, dass die Kirche von den weltlichen Obrigkeiten unabhängig ist. In seiner Kirchenordnung (1541) führte er nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Kirchenleitung. Weitere Ämter hatten die Lehrer (doctores) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten (9).
Calvin übte eine strenge Kirchenzucht aus. Sie sollte von dem Betroffenen nicht als Strafe, sondern als Hilfe verstanden werden. Die Maßnahmen reichten je nach Schwere des Falles von Ermahnung bis zu Verbannung und Hinrichtung (10). Calvin war aber kein Wegbereiter moderner totalitärer Regimes. Denn es gab in Genf keine massenweise Einkerkerung, Folter und Tötung Andersdenkender. Calvin war in tiefer Sorge wegen der harten Verfolgung seiner hugenottischen Landsleute und der Waldenser in Südfrankreich, die sich der Reformation angeschlossen hatten. Katholiken wurden in Genf nicht eingekerkert oder hingerichtet. Anders als die katholische Kirche und manche Lutheraner lehnte Calvin auch die Hinrichtung von Täufern ab (11).
Calvin setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545-63) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen (12).
Der konkrete Lebensvollzug des Christen geschieht insbesondere im Beruf, wo er mit dem Nächsten verbunden ist und ihm dient. Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sind dem Menschen "eingeboren". Wie sich Calvin bei der Gotteserkenntnis der natürlichen Theologie nähert so in der Ethik naturrechtlichen Gedankengängen, ohne in beiden Fällen daraus eine explizite Lehre zu machen (13). Diese rudimentären ethischen Vorstellungen werden durch die Zehn Gebote und das christliche Liebesgebot bestätigt und verstärkt (sozialethische Prinzipien). Daraus folgt für Calvin, dass eine Reihe von Rechten unantastbar sind und allen staatlichen Gesetzen zugrunde gelegt werden müssen. "Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Bekenntnisfreiheit für den wahren schriftgemäßen Glauben, auf persönliche Freiheit (...), auf das persönliche Leben und Eigentum, auf Wahrung der natürlichen Ungleichheit gegen allen gleichmacherischen Zwang bei aller Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott und dem Gesetz" (Jan Weerda). Diese Freiheitsrechte berechtigen jedoch nicht zu individualistischer Eigenmächtigkeit, vielmehr müssen sie der Gemeinschaft dienen (14).
Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Die Regierenden sind "Stellvertreter" Gottes und ihre Aufgabe ist es, "den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit" durch Gesetze und Rechtsprechnung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin ist der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lässt. Er hält aber eine Art konstitutionelle Aristokratie für die beste Regierungsform. "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen" (15). Das Volk ist zum Kriegsdienst in gerechten Verteidigungskriegen verpflichtet. Es muss auch Tyrannen erdulden. Diese zu stürzen ist Recht und Pflicht der niederen Obrigkeiten (z.B. Adel, Stände). Nur im Grenzfall ist Widerstandsrecht auch für den Einzelnen erlaubt, nämlich dann, wenn die Obrigkeit Ungehorsam gegen Gott befiehlt (16).
Staat und Kirche sind getrennt, obwohl beide zum Wohl der Menschen zusammenwirken müssen. Eine christliche Obrigkeit hat dafür zu sorgen, dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann. Im Extremfall muss die Obrigkeit gefährliche Irrlehrer verbannen oder hinrichten. Sie darf jedoch nicht die Übernahme des evangelischen Glaubens zu erzwingen versuchen (17).
Die Landwirtschaft setzte Calvin als selbstverständliche wirtschaftliche Betätigung voraus. Handel und Geldgeschäfte beurteilte er großzügiger als Luther, obwohl er wie dieser Wucherzinsen und andere Formen der Preistreiberei entschieden verurteilte. Notfalls haben die Obrigkeiten regulierend einzugreifen. Das Zinsnehmen ist erlaubt. Vermögen und Kapital sind Geld gewordene Arbeit. Wie Luther verstand Calvin Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten sie ab, da sie diese als nicht im Neuen Testament bezeugt sahen. Sie verwarfen Müßiggang und Betteln. Der Gedanke, wirtschaftlichen Erfolg bzw. die Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung als Zeichen göttlicher Erwählung zu verstehen, spielte bei Calvin nur am Rande eine Rolle. Er gewann erst in späteren, sich verweltlichenden Formen des Calvinismus wachsende Bedeutung und wurde so zum Ausgangspunkt für Max Webers Thesen zur Entstehung des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904))(17). Diese sind heute aber umstritten. Eine Vielzahl protestantischer Institutionen, denen Weber eine entscheidende Rolle im Prozess der Industrialisierung beimisst, bestanden bereits auf säkularer Ebene (18). Empirische Ergebnisse zeigen, dass in vielen der von Weber angeführten Regionen kein Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Protestantismus besteht. Beispielsweise lag Amsterdams Wohlstand weitgehend in katholischer Hand. Katholisch dominiert war auch das früh industrialisierte Rheinland (vgl. dazu Delacroix 1996). Allerdings sind die wirtschaftlichen (und politischen) Unterschiede zwischen dem katholisch geprägten Lateinamerika und dem protestantisch dominierten Nordamerika stark ausgeprägt und ohne konfessionell bedingte Verhaltensmuster nicht zu erklären.
Für die Reformatoren folgte aus der von Gott geschenkten Erlösung eine Lebensführung, die ihrer Auffassung nach Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus. Dies hatte zur Folge, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Machinen und Herstellungsmethoden investiert werden konnten. Auf diese Weise stärkten sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die Calvin hoch einschätzte, wechselseitig. Dies führte - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerksmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden mussten, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls wäre der Wirtschaftskreislauf zusammengebrochen. Gleichzeitig ermöglichten vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben es dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern (19).
Die Allmacht Gottes, die der Mensch nach Calvins Überzeugung im Glauben erfährt, lähmt ihn nicht. Im Gegenteil, sie gibt dem Glaubenden Selbstvertrauen und setzt ihn in Bewegung, wissend, dass alles Bemühen, Gottes Willen in der Welt zu verwirklichen, Stückwerk bleibt, aber der Vollendung durch Gott entgegengeht (20).
Wie Calvin die kirchliche "Überlieferung in das reformatorische Denken hineinnimmt und ihm gemäß umformt, so öffnet sich ihm auf der anderen Seite vermöge der europäischen Weite seines Gesichtsfeldes die werdende moderne Welt, die er durch seine Theologie maßgebend mitgestaltet hat. (...) Calvins Theologie hat ihre Kraft vor allem in der Verbindung gedanklicher Schärfe und praktisch-ethischer Gestaltbildung entfaltet und weit über die reformierten Kirchen hinaus gewirkt" (Otto Weber (21)).
Einzelnachweise
3. Heussi, S. 323 ff
4. Weber, Sp. 1596
5. Weber, Sp. 1598
6. Vgl. Bizer, Ernst: Fides ex Auditu (1958). (Zu Luthers reformatorischer Entdeckung)
7. Heussi, S. 324
8. Weber, Sp. 1596
9. Heussi, S. 325
10. Weerda, Sp. 209; Heussi, S. 325
11. Bornkamm, Sp. 939
12. Weber, Sp. 1597
13. Weber, Sp. 1594
14. Weerda, Sp. 209 f
15. Zitiert bei Weerda, Sp. 210
16. Weerda, Sp. 211; Weber, Sp. 1598
17. Weerda, Sp. 211
18. Vgl. Samuelson 1993, Tawney 1926
19. Heimann, Sp. 1136
20. Weerda, Sp. 211 f
21. Weber, Sp. 1594, 1598
Literatur
- Bornkamm, Heinrich: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), Sp. 933-946
- Heimann, E.: Kapitalismus. In: RGG, 3. Aufl., Bd. III (1959), Sp. 1136-1141
- Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957)
- Weber, Otto: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), Sp. 1593-1599
- Weerda, Jan: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), Sp. 207-212
-- ~~ (nicht signierter Beitrag von Martin Wolfangel (Diskussion | Beiträge) 15:58, 17. Mär. 2010 (CET))
- Der letzte Textvorschlag zum Ersatz des bisherigen Inhalts von "Seine Lehre" gefällt mir schon wesentlich besser. Nur gilt ja hier nicht nur meine Meinung, wehalb ich Stellungnahmen von weiteren Mitarbeiter sehr begrüßen würde. Gruß -- Muck 16:09, 19. Mär. 2010 (CET)
Hallo, der jetzige Abschnitt "Seine Lehre" kann mit dieser überarbeiteten "Textspende" ruhig ersetzt werden, da dieser in der Textspende auch eingearbeitet ist.
Es ist aber noch eine kleine Wikifizierung notwendig. Am manchen Stellen gibt es WP:POV, z. Bsp.: erster Satz "abhängig" sollte durch "beeinflusst" oder "geprägt" ersetzt werden. Zweiter Satz: "ungemein" sollte wegfallen und im dritten Satz sollte "...Theologiestudenten... strömten" durch "kamen" ersetzt werden (nur ein paar Bsps.).
Nach Lektüre des dritten Abschnitts, denkt der Leser, dass Calvin es befürwortet hat oder einverstanden war, dass das Abendmahl nur vier Mal im Jahr in Genf gefeiert wird. (später hat er sich wahrscheinlich damit angefreundet, nur da eben noch nicht.) Dies war nicht so. In meinem Buch ( ISBN 978-3-525-56966-5 ) von Georg Plasger (Calvin-Experte) ist aufgeführt, dass Calvin das Abendmahl sogar mehrmals im Monat feiern wollte (weiß nur nicht mehr ob jeden Sonntag oder nicht). Calvin konnte seine Ansicht nicht durschsetzen, weil der Rat der Stadt Genf (und/oder noch andere Reformatoren) dagegen waren und das Abendmahl nicht so oft feiern lassen wollte.
Im sechsten Abschnitt heißt es: Anders als die katholische Kirche und manche Lutheraner lehnte Calvin auch die Hinrichtung von Täufern ab. Es ist falsch nur die Katholiken und manche Lutheraner der Hinrichtung von Täufern verantwortlich zu machen. In Zürich, wo ganz andere Reformatoren wirkten, wurden zum Beispiel mehrere Täufer hingerichtet/ermordet (siehe Datei:Zürich - Schipfe IMG 1969.JPG). Also würde ich manche Lutheraner einfach mit manche Lutheraner sowie Reformierte ersetzen. Abgesehen davon: Auch wenn Calvin die Hinrichtung ablehnte, war er doch gegen sie.
Auch müsste man im sechsten Abschnitt, ziemlich am Anfang, zur Kirchenzucht ergänzen, dass sie (nicht unwesentlich!) auch durch die hohen Flüchtlingsströme so "hart" wurde. Von den damals 10.000 Einwohner Genfs kamen innerhalb von 30 Jahren 15.000(!) Flüchtlinge hinzu. Diese 25.000 Ew mussten geeint werden und Orientierung erfahren. siehe letzter Abschnitt von: [2]
Aber: Neben dem Artikel über die Person gibt es auch noch den zweiten Abschnitt (Lehre) bei dem Artikel Calvinismus. Da die Theologie von Calvin mMn auch hier in die Biografie gehört, müsste man zwangsläufig von dort nach hier verlinken oder umgekehrt.
Sonst finde ich an der "Textspende" nichts auszusetzen. Grüße -- ++gardenfriend++ Disk. 23:19, 19. Mär. 2010 (CET)
- Hallo, Gardenfriend, vielen Dank für deine Vorschläge. Ich will sehen, dass ich sie in meine vorgeschlagene Textspende einarbeiten kann. Es ist eigentlich üblich, die Biographie und die Theologie zu trennen. Die RGG macht das z.B. so. Ich halte das auch für sinnvoll. Der bisherige Artikel über Calvin trennt auch "Lehre" und Biographie. Was bitte ist WP:POV? Gruß Martin Wolfangel Signaturnachtrag: Martin Wolfangel 16:13, 24. Mär. 2010
- POV kommt aus dem Englischen „Poit Of View“ und meint eine „eigene persönliche Ansicht“, die es bei WP zu vermeiden gilt. Siehe bitte auch WP:POV. Gruß -- Muck 16:29, 24. Mär. 2010 (CET)
Hallo, gardenfriend, ich habe deine Vorschläge in die Textspende eingearbeitet. Mir fehlen dafür allerdings die Einzelnachweise. Falls die Mitarbeiter von Wikipedia solche für die Zusätze verlangen sollten, müsstest du sie einfügen oder mir die entsprechenden Informationen zukommen lassen, damit ich das tue.
Du erwähnst den Artikel über den Calvinismus. Dieser lässt Etliches zu wünschen übrig. Ich will auf einige der größeren Lücken, Ungenauigkeiten und Fehler kurz eingehen.
Seite 1
Die von Calvin geprägten Kirchen sind nicht nur "die Reformierten Kirchen Westeuropas und die englischen Presbyterianer", sondern auch die Kongregationalisten. In stärkerem oder schwächerem Maße wurden auch die Anglikaner (Neununddreißig Artikel), die Baptisten und die Methodisten von Calvin beeinflusst. Alle diese Kirchen sind heute in der ganzen Welt vertreten (Mission). Der Reformierte Weltbund vereinigt 215 Kirchen mit weltweit 75 Millionen Mitgliedern. Er wird sich im Juni 2010 mit dem Reformierten Oekumenischen Rat (12 Millionen Mitglieder in 25 Ländern) zusammenschließen. Das Zentrum der Presbyterianer ist nicht England, sondern Schottland (Reformator John Knox, ein Schüler Calvins). Die Quäker entstanden ebenfalls im Umfeld der Reformation und sind von Calvin beeinflusst, auch wenn sie seine Prädestinationslehre ablehnen. Erwähnt werden müssten auch die uniertren Kirchen aus Lutheranern und Reformierten (z.B. Pfalz, Preußen, United Church of Christ).
Völlig unverständlich und unsachgemäß ist, dass in dem Artikel jeder Hinweis auf die Vereinigten Staaten fehlt. Es waren Kongregationalisten, Presbyterianer, Baptisten und Quäker, die von Anfang an nicht nur das religiöse und kulturelle Leben in den Kolonien prägten, sondern mit der Gewährung der Glaubensfreiheit (Roger Williams, William Penn) das zentrale Menschenrecht schufen, dem weitere Grundrechte folgten. Beispielsweise standen diese Kirchen und ihre Mitglieder in vorderster Front im Kampf gegen die Sklaverei ("Slavery is sin"), z.B. Harriet Beecher Stowe mit ihrem außerordentlich einflussreichen Roman "Uncle Tom's Cabin". Die kommunale Selbstverwaltung, die von Anfang an von den Puritanern und Quäkern in den Kolonien Neuenglands praktiziert wurde, war die Wurzel der amerikanischen Demokratie (Mayflower Compact; vgl. Alexis de Tocqueville, De la démocratie en Amérique).
Die gesamte angloamerikanische Welt ist ohne Calvin und die Calvinisten nicht denkbar. Nach 1553 stieg der Calvinismus durch seine Festsetzung in ganz Westeuropa "zu einer Weltmacht" empor. Infolge der Kolonisierung Nordamerikas durch England ab 1607 erschloss sich dem Protestantismus, insbesondere den von Calvin geprägten oder beeinflussten Kirchen, "ein neues, ungeheures Ländergebiet, das ihm zwei Jahrhunderte später zur Behauptung seiner Weltgeltung hervorragende Dienste leisten sollte", so der Kirchenhistoriker Karl Heussi (Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957), S. 322, 386). Glaubens- und Gewissensfreiheit war und ist eines der zentralen Anliegen des Calvinismus, was besonders in Amerika zu einer starken Zersplitterung der calvinistischen Kirchen führte (Jan Weerda: Reformierte Kirchen. In: RGG, 3. Aufl. , Band V (1961), Sp.885) . Das politische Leben musste deshalb so gestaltet werden, dass diese Freiheit gewährleistet war. Das führte zur strikten Trennung von Staat und Kirche in der amerikanischen Verfassung.
Der Tenor des Wikipedia-Artikels über den Calvinismus ist Unfreiheit, Zwang, Illiberalität. Es wird verschwiegen, aus Unwissenheit des Autors oder aus Absicht, dass schon im 17. Jahrhundert die Niederlande unter calvinistischer Führung und England die freiheitslichsten Länder Europas waren (Heussi, a.a.O., S. 396). Und dieselbe Entwicklung begann in den Kolonien in Neuengland und konnte sich dort ungehindert entfalten, weil der englische König weit weg war und den Protestanten keine Religionskriege aufgezwungen wurden. "Die Reformation hat auf nahe Sicht die Intoleranz, auf weite Sicht die Toleranz gefördert" (Heussi, a.a.O., S. 316). Das gilt auch und gerade für die von Calvin geprägten oder beinflussten Kirchen.
"Liberale Christen verschiedener Konfessionen halten die calvinistische Lehre für antiliberal und intolerant" (S. 3). Dieser Satz widerspricht m. E. in eklatanter Weise der von Wikipedia geforderten "Neutralität" der Darstellung. Denn er suggeriert, dass für moderne, denkende Menschen, für die sich so gut wie alle Nutzer von Wikipedia zweifellos halten, der Calvinismus als Ganzer inakzeptabel ist. Ich will nicht leugnen, dass es "liberale Christen" gibt, die den Calvinismus in Bausch und Bogen ablehnen. Aber es gibt auch liberale Christen innerhalb und außerhalb der reformierten Kirchen, die zwar die eine oder andere calvinistische Lehraussage kritisieren, neu intrerpretieren oder ablehnen, aber den Calvinismus dennoch schätzen, seine Spiritualität, seine zivilisatorische Leistung, nicht zuletzt die oben skizzierten Weichenstellungen in Richtung Demokratie und Menschenrechte. Ein weiteres wichtiges Indiz für Liberalität ist die Zulassung von Frauen zum geistlichen Amt in den meisten reformierten Kirchen, im Unterschied zu Katholiken und Orthodoxen.
Die Geschichte des Calvinismus umfasst etwa 460 Jahre. Der Artikel will ihn aber vor allem auf Calvins Prädestinationslehre festnageln. Aber selbst relativ konservative reformierte Theologen wie Karl Barth und seine Schüler nahmen bei dieser Lehre Korrekturen vor. Sie sind der Auffassung, dass Calvin seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über den Willen Gottes nicht folgte, als er die Lehre von der doppelten Prädestination entwickelte. Barth und seine Schüler betonen, aufgrund des biblischen Zeugnisses dürfe es zur Erwählung kein logisches Pendant, also die Verwerfung, geben. In Christus seien alle Menschen erwählt. Dass es dennoch Menschen gebe, die das Heilsangebot ausschlagen, sei ein Geheimnis, das kein Mensch und auch nicht die Kirche aufzulösen wagen dürften.
Im Calvinismus gibt es beides: Enge und Weite, Unfreiheit und Freiheit. Die theologischen Positionen der reformierten Kirchen und der Gruppierungen in ihnen reichen von sehr konservativ (z.B. Gereformeerde Kerk in den Niederlanden) bis ausgesprochen liberal.
Seite 2
"Solus Christus" bedeutet nicht in erster Linie, dass "allein Christus Autorität über Gläubige" hat, sondern dass er der alleinige Erlöser ist. Damit wandte sich Luther, der die vier Soli formulierte, unter anderem gegen die Verehrung von Maria und der Heiligen.
Warum enthält der Artikel keinen einzigen Einzelnachweis? Der angebliche Einzelnachweis auf S. 5 ist keiner, diese Information gehört vielmehr in das Literaturverzeichnis. Woher stammt z.B. das Akronym TULIP?
Seite 3
Das zusammenhanglose Aneinanderfügen von Schlagwörtern ohne hinreichende Erläuterung nützt dem durchschnittlichen Wikipedia-Nutzer so gut wie nichts.
Was ist "protestantische Askese"? Wenn es sie gibt, wie wird sie begründet? Welche Konsequenzen hat sie für die Lebensgestaltung der Evangelischen?
"Strenge Kirchenzucht". - Auch in dieser Hinsicht hat sich seit dem 16. Jahrhundert sehr vieles verändert. Wenn heute in den meisten reformierten Kirchen, zumal den mitgliederstarken, eine Kirchenzuchtmaßnahme ausgesprochen würde, würde der Betroffene sehr schnell austreten.
"Unabhängigkeit vom Staat".- Welche Folgen hatte diese Trennung von Kirche und Staat für die Schaffung von Staatsverfassungen der Neuzeit, z.B. der Vereinigten Staaten (Bill of Rights)?
"Nicht-hierarchische Kirchenordnung". - Welche Folgen hatte dies für die Entstehung der neuzeitlichen Demokratie?
"Abendmahl als Erinnerungsfeier". - Das ist Zwingli, nicht Calvin (Spiritualpräsenz).
Mit anderen Worten: Der Artikel über Calvinismus bedarf dringend einer gründlichen Überarbeitung. Wenn die Miotarbeiter von Wikipedia aber auch gründlich recherchierte und dokumentierte Textspenden ablehnt, wird sich niemand diese Mühe machen. Für alle von mir angeführten Fakten lassen sich Einzelnachweise beibringen.
Im Anhang die überarbeitete Version meiner Textspende zu Calvins Theologie. Gruß Martin Wolfangel
Calvins Theologie
Calvin war als Reformator der zweiten Generation theologisch von Luther, Melanchthon, Zwingli und Bucer beeinflusst. Jedoch setzte er auch kräftige eigene Akzente. Er war tief religiös, in seinen Anschauungen strenger als Luther und ungemein willensstark. Mit scharfem Intellekt schuf er mit seiner "Institutio Christianae religionis" das geschlossenste systematische Werk der Reformation. Als sein Wirkungsfeld sah er ganz Europa. Er unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz und unterrichtete Tausende Theologiestudenten, die von überall her an die 1559 gegründete Akademie in Genf kamen.[1]
Calvin traf in Genf auf eine weithin paganisierte (neuheidnische) Gesinnung. Die Frage, ob der Mensch Gott erkennen kann, war zum Problem geworden, auf das Calvin einging. Nach seiner Auffassung gewinnt der Mensch zwar aus der Betrachtung von Natur, Geschichte und seiner selbst eine gewisse Gotteserkenntnis, aber er ist zugleich Sünder, der fern von Gott ist. Deshalb ist er darauf angewiesen, dass Gott sich ihm durch sein Wort, in dessen Zentrum Christus steht, zu erkennen gibt. Dies geschieht sowohl im Alten als auch im Neuen Testament, wenn auch auf verschiedene Art und Weise (Luthers sola scriptura, allein die Schrift). Calvin fogt dem Kirchenvater Augustin in seinem Verständnis der Sünde als Erbsünde, einer völligen, schuldhaften Trennung des Menschen von seinem Schöpfer, die nur dieser selbst überwinden kann. Jesus Christus (solus Christus, allein Christus) hebt durch seine Person und sein erlösendes Werk diese Trennung auf und schenkt dem Glaubenden durch den Heiligen Geist Gemeinschaft mit sich und dem Vater. (Calvin denkt streng trinitarisch.) Damit ist der Glaubende, der dieses Geschenk dankbar annimmt, gerechtfertigt und geheiligt (sola fide, allein durch den Glauben). "Das Leben im Glauben ist nach Calvin gekennzeichnet durch Buße, Selbstverleugnung, Gebet, Betrachtung des zukünftigen Lebens und steht in allem" unter der christlichen Freiheit.[O 1]
Wie die anderen Reformatoren ließ Calvin als Sakramente nur die Taufe und das Abendmahl gelten. Dieses ist wirksames Zeichen. In ihm ist Christus durch den Heiligen Geist gegenwärtig und wirksam ("Spiritualpräsenz").[O 2] Die Predigt hat sakramentalen Charakter, denn sie macht den Glaubenden der Gemeinschaft mit Gott teilhaftig (Luther: Fides ex auditu, der Glaube kommt aus dem Hören.[2] Calvin konnte sich mit dem Wunsch, das Abendmahl mehrmals im Monat zu feiern, nicht gegen den Rat der Stadt Genf durchsetzen. Es wurde daraufhin viermal im Jahr gefeiert. Das Innere der Kirchen war betont schlicht gehalten, um die Menschen nicht vom Wesentlichen - Schriftlesung, Predigt, Gebet, gemeinsames Singen - abzulenken. Calvin förderte das Kirchenlied, hauptsächlich Psalmen, die in Strophen- und Versform gebracht und vertont wurden.[3]
Calvins Prädestinationslehre betont, dass der Glaube Gottes unverdientes Geschenk ist (sola gratia, allein aus Gnade). Gottes freie Gnadenwahl ist sein Geheimnis. Gewissheit der Erwählung findet der Mensch nicht in sich selbst, sondern allein im Blick auf Jesus Christus. Trotz seiner eigenen Warnung vor Spekulationen über Gottes Willen erlag Calvin doch dieser Versuchung, indem er als logisches Gegenstück zur Erwählung der einen Menschen die Verdammnis der anderen lehrte ("doppelte Prädestination").[O 1]
Die Kirche ist für Calvin die "Mutter" der Glaubenden. Denn in der Kirche begegnen ihnen die Predigt des Wortes Gottes und die Sakramente. Calvin war es wichtig, dass die Kirche von den weltlichen Obrigkeiten unabhängig ist. In seiner Kirchenordnung (1541) führte er nach dem Vorbild der urchristlichen Gemeinden das Amt der Ältesten (anciens) ein. Diese waren zugleich Mitglieder des weltlichen Rates der Stadt Genf. Zusammen mit den Pfarrern (ministres), die für das gottesdienstliche Leben zuständig waren, bildeten sie das Konsistorium (consistoire), also eine Synode, d.h. eine selbständige Kirchenleitung. Weitere Ämter hatten die Lehrer (doctores) inne, die für den kirchlichen Unterricht sorgten, und die Diakone (diacres), die die Armenpflege ausübten.[4]
Calvin übte eine strenge Kirchenzucht aus. Ihre Härte wurde nicht unwesentlich durch die großen Flüchtlingsströme verursacht. Zu den rund 10.000 Einwohnern von Genf kamen innerhalb von 30 Jahren etwa 15.000 Flüchtlinge hinzu, zumeist Hugenotten. Diese 25.000 Menschen mussten geeint werden und Orientierung erfahren. Der Betroffene sollte die Kirchenzucht nicht als Strafe, sondern als Hilfe verstehen. Die Maßnahmen reichten je nach Schwere des Falles von Ermahnung bis zu Verbannung und Hinrichtung. [J 1][4] Calvin war aber kein Wegbereiter moderner totalitärer Regimes. Denn es gab in Genf keine massenweise Einkerkerung, Folter und Tötung Andersdenkender. Calvin war in tiefer Sorge wegen der harten Verfolgung seiner hugenottischen Landsleute und der Waldenser in Südfrankreich, die sich der Reformation angeschlossen hatten. Katholiken wurden in Genf nicht eingekerkert oder hingerichtet. Anders als die katholische Kirche sowie manche Lutheraner und Reformierte lehnte Calvin auch die Hinrichtung von Täufern ab.[5]
Calvin setzte sich für die Einheit der Kirche ein. Deshalb arbeitete er bei Einigungsversuchen auch mit katholischen Theologen zusammen. Nachdem sich das Konzil von Trient (1545-63) scharf gegen die Reformation abgegrenzt hatte, beschränkte Calvin seine Anstrengungen darauf, eine Einigung der evangelischen Kirchen herbeizuführen.[O 3]
Der konkrete Lebensvollzug des Christen geschieht insbesondere im Beruf, wo er mit dem Nächsten verbunden ist und ihm dient. Gewisse Vorstellungen von Gerechtigkeit und Rechtschaffenheit sind dem Menschen "eingeboren". Wie sich Calvin bei der Gotteserkenntnis der natürlichen Theologie nähert so in der Ethik naturrechtlichen Gedankengängen, ohne in beiden Fällen daraus eine explizite Lehre zu machen.[O 4] Diese rudimentären ethischen Vorstellungen werden durch die Zehn Gebote und das christliche Liebesgebot bestätigt und verstärkt (sozialethische Prinzipien). Daraus folgt für Calvin, dass eine Reihe von Rechten unantastbar sind und allen staatlichen Gesetzen zugrunde gelegt werden müssen. "Zu diesen Rechten gehören das Recht auf Bekenntnisfreiheit für den wahren schriftgemäßen Glauben, auf persönliche Freiheit (...), auf das persönliche Leben und Eigentum, auf Wahrung der natürlichen Ungleichheit gegen allen gleichmacherischen Zwang bei aller Gleichwertigkeit der Menschen vor Gott und dem Gesetz" (Jan Weerda). Diese Freiheitsrechte berechtigen jedoch nicht zu individualistischer Eigenmächtigkeit, vielmehr müssen sie der Gemeinschaft dienen.[J 2]
Neben der Kirche hat für Calvin der Staat wichtige sozialethische Funktionen. Die Regierenden sind "Stellvertreter" Gottes und ihre Aufgabe ist es, "den Frieden, die Religion und die Ehrbarkeit" durch Gesetze und Rechtsprechnung zu gewährleisten. Um Missbrauch der politischen Macht auszuschließen, müssen Regierungsorgane unterschiedlichen Ranges geschaffen werden, die sich gegenseitig stützen, aber auch kontrollieren. Calvin ist der Ansicht, dass sich aus der Bibel keine Staatsform verbindlich ableiten lässt. Er hält aber eine Art konstitutionelle Aristokratie für die beste Regierungsform. "Es ist ein unschätzbares Geschenk, wenn Gott es erlaubt, dass ein Volk die Freiheit hat, Oberhäupter und Obrigkeiten zu wählen".[J 3] Das Volk ist zum Kriegsdienst in gerechten Verteidigungskriegen verpflichtet. Es muss auch Tyrannen erdulden. Diese zu stürzen ist Recht und Pflicht der niederen Obrigkeiten (z.B. Adel, Stände). Nur im Grenzfall ist Widerstandsrecht auch für den Einzelnen erlaubt, nämlich dann, wenn die Obrigkeit Ungehorsam gegen Gott befiehlt.[J 4][O 2]
Staat und Kirche sind getrennt, obwohl beide zum Wohl der Menschen zusammenwirken müssen. Eine christliche Obrigkeit hat dafür zu sorgen, dass die Kirche ihren Dienst in Freiheit ausüben kann. Im Extremfall muss die Obrigkeit gefährliche Irrlehrer verbannen oder hinrichten. Sie darf jedoch nicht die Übernahme des evangelischen Glaubens zu erzwingen versuchen.[J 4]
Die Landwirtschaft setzte Calvin als selbstverständliche wirtschaftliche Betätigung voraus. Handel und Geldgeschäfte beurteilte er großzügiger als Luther, obwohl er wie dieser Wucherzinsen und andere Formen der Preistreiberei entschieden verurteilte. Notfalls haben die Obrigkeiten regulierend einzugreifen. Das Zinsnehmen ist erlaubt. Vermögen und Kapital sind Geld gewordene Arbeit. Wie Luther verstand Calvin Arbeit als Dank des Menschen für die von Gott in Christus geschenkte Erlösung und als Dienst am Nächsten. Rein meditative Beschaulichkeit lehnten sie ab, da sie diese als nicht im Neuen Testament bezeugt sahen. Sie verwarfen Müßiggang und Betteln. Der Gedanke, wirtschaftlichen Erfolg bzw. die Fähigkeit zu strengster Pflichterfüllung als Zeichen göttlicher Erwählung zu verstehen, spielte bei Calvin nur am Rande eine Rolle. Er gewann erst in späteren, sich verweltlichenden Formen des Calvinismus wachsende Bedeutung und wurde so zum Ausgangspunkt für Max Webers Thesen zur Entstehung des Kapitalismus (Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904)).[J 4] Diese sind heute aber umstritten. Eine Vielzahl protestantischer Institutionen, denen Weber eine entscheidende Rolle im Prozess der Industrialisierung beimisst, bestanden bereits auf säkularer Ebene.[6] Empirische Ergebnisse zeigen, dass in vielen der von Weber angeführten Regionen kein Zusammenhang zwischen ökonomischer Entwicklung und Protestantismus besteht. Beispielsweise lag Amsterdams Wohlstand weitgehend in katholischer Hand. Katholisch dominiert war auch das früh industrialisierte Rheinland (vgl. dazu Delacroix 1996). Allerdings sind die wirtschaftlichen (und politischen) Unterschiede zwischen dem katholisch geprägten Lateinamerika und dem protestantisch dominierten Nordamerika stark ausgeprägt und ohne konfessionell bedingte Verhaltensmuster nicht zu erklären.
Für die Reformatoren folgte aus der von Gott geschenkten Erlösung eine Lebensführung, die ihrer Auffassung nach Gottes Willen entspricht: Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und, vor allem bei Calvin, Verzicht auf Vergnügungen und Luxus. Dies hatte zur Folge, dass ständig 60 bis 80 Prozent des Gewinns eines Wirtschaftsunternehmens in die Produktionserweiterung und die jeweils neuesten und effektivsten Machinen und Herstellungsmethoden investiert werden konnten. Auf diese Weise stärkten sich Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, die Calvin hoch einschätzte, wechselseitig. Dies führte - zur größeren Ehre Gottes - zu einem weiteren Wachstum des Gewinns, also steigendem Wohlstand, nicht nur bei den Handwerksmeistern und Unternehmern, sondern auch bei ihren Arbeitern, die durch höhere Löhne in die Lage versetzt werden mussten, das immer größer werdende Angebot an Produkten und Dienstleistungen kaufen zu können. Andernfalls wäre der Wirtschaftskreislauf zusammengebrochen. Gleichzeitig ermöglichten vermehrte Einnahmen aus Steuern und Abgaben es dem Staat, das Bildungswesen und die Infrastruktur ständig zu verbessern.[7]
Die Allmacht Gottes, die der Mensch nach Calvins Überzeugung im Glauben erfährt, lähmt ihn nicht. Im Gegenteil, sie gibt dem Glaubenden Selbstvertrauen und setzt ihn in Bewegung, wissend, dass alles Bemühen, Gottes Willen in der Welt zu verwirklichen, Stückwerk bleibt, aber der Vollendung durch Gott entgegengeht.[J 5]
Wie Calvin die kirchliche "Überlieferung in das reformatorische Denken hineinnimmt und ihm gemäß umformt, so öffnet sich ihm auf der anderen Seite vermöge der europäischen Weite seines Gesichtsfeldes die werdende moderne Welt, die er durch seine Theologie maßgebend mitgestaltet hat. (...) Calvins Theologie hat ihre Kraft vor allem in der Verbindung gedanklicher Schärfe und praktisch-ethischer Gestaltbildung entfaltet und weit über die reformierten Kirchen hinaus gewirkt".[O 5]
Einzelnachweise
- ↑ Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957), S. 323 ff
- ↑ Vgl. Ernst Bizer: Fides ex Auditu (1958). (Zu Luthers reformatorischer Entdeckung)
- ↑ Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957), S. 324
- ↑ a b Karl Heussi: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957), S. 325
- ↑ Heinrich Bornkamm: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), S. 939
- ↑ Vgl. Samuelson 1993, Tawney 1926
- ↑ E. Heimann: Kapitalismus. In: RGG, 3. Aufl., Bd. III (1959), S. 1136
- Otto Weber: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), S. 1593-1599
- Jan Weerda: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), S. 207-212
Literatur
- Bornkamm, Heinrich: Toleranz - in der Geschichte des Christentums. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG), 3. Aufl., Bd. VI (1962), Sp. 933-946
- Heimann, E.: Kapitalismus. In: RGG, 3. Aufl., Bd. III (1959), Sp. 1136-1141
- Heussi, Karl: Kompendium der Kirchengeschichte, 11. Aufl. (1957)
- Weber, Otto: Calvin - Theologie. In: RGG, 3. Aufl., Bd. I (1957), Sp. 1593-1599
- Weerda, Jan: Calvin. In: Evangelisches Soziallexikon (1954), Sp. 207-212
--~~ (nicht signierter Beitrag von Martin Wolfangel (Diskussion | Beiträge) 16:38, 31. Mär. 2010 (CEST))
- Hallo, bei dem Artikel über den Calvinismus müsste man wirklich was machen. Jedoch erstmal zur Textspende für den Calvin Artikel: Ich habe die Einzelnachweise nun einmal sortiert und die von Weber und Weerda in Gruppen einsortiert. -- ++gardenfriend++ Disk. Mach mit! 17:07, 2. Apr. 2010 (CEST)