[go: nahoru, domu]

Eine kleine Vorrede... Wahrscheinlich kassiert diese Seite gleich einen Löschantrag. Das wäre jedenfalls so die für Wikipedia typische Reaktion, die ich - nein, nicht erwarte - aber doch mit ihr rechnen würde. Warum dieser Text? Vielleicht, weil der Artikel Wikipedia so steif und förmlich ist, und all das weglässt, was die Geschichte dieses Projektes eigentlich ausmacht: Nicht die Artikelrekorde, die Meilensteine, die positive oder negative Berichterstattung in den Medien. Es ist die Community, das Wechselspiel zwischen einander im Alltagsleben völlig fremden Leuten, die großen Flame-Wars, aber auch die mitreißenden Erlebnisse, die sich manchmal hier abspielen.

Ich versuche, die Ereignisse so akkurat wiederzugeben, wie ich sie in Erinnerung habe. Vieles davon kann man in den Versionsgeschichten oder den Archiven der Mailinglisten nachlesen, wenn man weiß, wo man suchen muss. Um mehr Ruhe zu haben, schreibe ich diesen Text offline.

August 2002

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Jeder hat eine eigene Geschichte, wie er zu Wikipedia gekommen ist. Meine ist nicht besonders außergewöhnlich, aber vielleicht doch ein bisschen seltsam: Ich bekenne hiermit, ich habe die Adresse aus einem Buch abgetippt. Aus einer Fußnote. Volker Grassmuck hat in seinem Buch über freie Software dem damals noch in den Kinderschuhen steckenden Projekt einen Satz gewidmet, der mich neugierig machte. Eine freie Enzyklopädie - das klingt als wäre es mein Open-Source-Projekt, war mein erster Gedanke. Die Realität war enttäuschend. In der englischen Version ein schon in Ansätzen brauchbares Projekt, bestand die deutsche Wikipedia zum größten Teil aus Links mit Fragezeichen - das war damals noch die Standardmarkierung für einen nicht-existenten Artikel - und Stubs. Eine Bestandsaufnahme in meinen Fachgebieten fiel mager aus, Grund genug, sich an die Arbeit zu machen. Zum Artikel selbst schreiben kam schnell das Gärtnern hinzu, das Verbessern von dem, was andere Benutzer tagtäglich einstellten.

Nach drei Wochen hatte ich auch endlich raus, wie es mit dem Durchsetzen von Verbesserungsvorschlägen funktionierte. Nachdem ich auf meine ständigen "Wäre es nicht sinnvoller...?" auf Diskussionsseiten in der Regel keine Antwort bekam, griff ich beim nächsten Mal beherzt zur Tat - und erntete zumeist ein Dankeschön. Ganz ähnlich lief auch einige Monate später meine "Kandidatur" zum Admin. Eine Liste von elf Änderungsvorschlägen an der damals schon geschützten Hauptseite brachte das Faß zum Überlaufen. "Das machst du jetzt selbst" befand ein Kurt Jansson und setzte auf die Mailingliste den Adminvorschlag. Hat jemand was dagegen? nein? okay, dann war es für Magnus Manske Zeit, per SQL-Query bei dem jeweiligen Benutzer das Admin-Flag zu setzen (Nerd war glaube ich der erste, bei dem tatsächlich jemand Bedenken äußerte, aber auch da wurden wir uns einig).

Die Community war zu diesem Zeitpunkt klein und überschaubar: Kurt Jansson, die Seele des Projekts, der der immer da war und ruhig und sachlich seine Standpunkte einbrachte. Ben-Zin, seit langem nicht mehr dabei, füllte seitenweise und tagelang ganz alleine die letzten Änderungen, mit selbstgeschriebenen Artikeln (Französische Revolution?), aber vor allem mit unzähligen von Interwiki-Links. Magnus Manske, der Autor der Nupedia-Software, war der Entwickler und Server-Admin. Media lib, Igelball, Schewek, Vulture, die Esperantisten wie Paul Ebermann, der immer dreisprachig auf die Mailingliste postete und die ruhige Bibliothekarin Unukorno - das sind die Leute, die die Wikipedia damals bevölkerten. Ein Zenogantner, der mir schon damals, bevor ich ihn lange Zeit später real kennenlernte, wahnsinnig sympathisch war und ein Nerd, mit dem ich - und manch anderer - desöfteren mal aneinander geriet. Und natürlich Pit - der einzige aus meinem Freundeskreis, der wie ich das Projekt Wikipedia begeistert aufgegriffen hatte und der mit mir die Länderartikel in einer Upload-Orgie mit von User:Scipius aus der englischen Wikipedia gesponserten Flaggen bestückte.

Den Wikipedia-Chat gab es damals auch schon - und richtig glücklich waren wir, als wir auf einmal zu dritt im Channel waren: Kurt, Schewek und ich. Wichtiger als der Chat war hier schon die Mailingliste (Archiv aus der Zeit leider verloren gegangen), auf der die meisten allgemein interessanten Fragen diskutiert wurden. Wie zum Beispiel das Kopernikusproblem...

Kopernikus und das Polenproblem

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Nikolaus Kopernikus - Pole oder Deutscher? Die englischen Wikipedianer hatten die Diskussion irgendwann satt. H. Jonat, eine in den USA lebende Heimatvertriebene, wollte das mit dem NPOV einfach nicht kapieren. Einen gefärbten Text nach dem anderen stellte sie ein, unzählige Diskussionsversuche wurden unternommen, immer öfter tauchte der Vorschlag auf, sie zu sperren. Der "benevolent dictator" Jimbo beendete schließlich die Debatte auf der Mailingliste mit der Entscheidung, H. Jonat zu sperren. In der deutschen Wikipedia, in der sie - am schlechten Deutsch schnell erkennbar - auch mitgearbeitet hatte, übernahmen wir die Entscheidung in einer kurzen Diskussion auf der Mailingliste.

H. Jonat waren wir damit los, doch das Polenproblem sollte die englische und die deutsche Wikipedia noch lange verfolgen. en:Gdansk oder Danzig? Die Archive der Diskussionsseite zu dieser Stadt sind eine Historie für sich. Namenskonventionen bildeten sich in langen Diskussionen und mühsamen Kompromissen heraus.

Eine Frage des NPOV

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Nachdem ich anfangs beschlossen hatte, mich nicht um die schon weiter fortgeschrittene englische Wikipedia, sondern um die noch im Embryostadium einer Enzyklopädie befindliche deutsche Wikipedia zu kümmern, legte ich mir nach kurzer Zeit doch einen Benutzer-Account in der englischen Wikipedia an. Eigentlich nur, um angemeldet Interwiki-Links zu setzen. Hier war ich nicht Benutzer Nr. 44, sondern irgendwas über 4.000 - schon ein signifikanter Unterschied. Aber kaum hatte ich meine Benutzerseite angelegt, wurde ich auch schon begrüßt, von dem unermüdlichen User:Maveric149, dem man damals nachsagte, dass er wohl Tag und Nacht in der Wikipedia unterwegs sei. Mehr Edits in der Benutzerstatistik hatte nur der User:Rambot, der - gefüttert mit Zensus-Daten - die englische Wikipedia unter Protesten mancher Benutzer mit Artikeln selbst zum unbedeutendsten amerikanischen Kaff fütterte.

Von den Interwiki-Links zu den Artikeln. In einem Bereich packte mich da schnell das kalte Grausen. Das war der israelisch-palästinensische Konflikt. Ein Artikel nach dem anderen lesend, geriet ich mehr und mehr in Wut. Das sollte NPOV sein? Israelische Propaganda ohne das kleinste bisschen Verständnis für die Position der Palästinenser, die darin stereotyp als Terroristen und Fanatiker dargestellt wurden. Detailliert zählten die Artikel die arabischen Anschläge auf. Menschenrechtsverletzungen der Israelis? Fehlanzeige. In einem Posting an die englische Mailingliste sammelte ich die eklatantesten Fälle: Das Massaker von Deir Yassin unter dem verharmlosenden Artikelnamen "Deir Yassin incident" usw. und erntete eine verblüffende Reaktion. Neben vielen anderen, überwiegend hilflosen Kommentaren ("Sollen wir alle Artikel dazu einfach ganz löschen? Wir können ja eh nicht neutral sein.") meldete sich Jimbo persönlich zu Wort mit einem aufmunternden Posting.

Die positiven Reaktionen führten zur Gründung des "Israeli-Palestinian-Editing project" und einigen friedlichen und weniger friedlichen, aber immer konstruktiven Diskussionen zwischen den Vertretern der israelischen Seite, hauptsächlich Uriyan, mit dem ich damals in regem Mailwechsel stand und Ed Poor, "Uncle Ed", der so naive und herzensgute Vermittler, Stevertigo, Mr. Saad und mir. Gescheitert ist das Projekt an jemand, der sich nicht daran beteiligen wollte: RK. Immer wieder gerieten wir aneinander, ein mühsam erreichter Kompromiss wurde von RK mit Reverts zunichte gemacht, bis es mir reichte. Benutzerseite gelöscht. Die englische Wikipedia betrat ich angemeldet erst anderthalb Jahre später wieder, als nach zahllosen Beschwerden, Edit-Wars und Flame-Wars auf der Mailingliste das englische Arbitration Committee schließlich RK für vier Monate sperrte (nach ungefähr viermonatiger Beratungszeit!).

Viele der Artikel zum Nahostkonflikt sind inzwischen besser geworden, doch noch immer dominiert das Thema die Kategorie:NPOV in der englischen Wikipedia.

Noch an einem anderen Thema rannte ich mir damals den Schädel ein und konnte dabei die ersten Erfahrungen mit der scheinbaren Unbeweglichkeit der Wikipedia-Community sammeln. http://www.wikipedia.org war ein Redirect auf die englische Wikipedia. Was lag näher, als daraus ein internationales Portal zu machen, auf dem alle Sprachen verlinkt waren? Anscheinend fehlte ja nur jemand, der endlich mal Nägel mit Köpfen machte. Einen Entwurf gebastelt und auf der Mailingliste präsentiert. Dort stellte sich heraus, dass die Sache doch nicht so klar war. Ein Redirect nach der Browsersprache auf die jeweilige Wikipedia wäre doch viel nützlicher, meinten einige. Das benachteilige die kleineren Wikipedias und funktioniere überdies unzuverlässig, argumentierte die andere Hälfte ebenso vehement dagegen. Hin und her ging die Debatte, eine ungeduldige Elian schlug schließlich vor: Lasst uns doch bitte abstimmen. Mit dem Protest, der mir dann entgegenschlug, hatte ich nicht gerechnet. "Voting is evil" erklärte mir The Cunctator, der grummelige Non-Konformist. Die Abstimmung - auf der Mailingliste - ging für das Portal aus. Nur ein Portal gab es nicht.

Von Zeit zu Zeit kamen andere nach mir daher, die die Debatte wieder anstießen, dann wurde diskutiert, bis alle müde waren und nichts passierte. Bis Anfang 2005. User:Tim Starling implementierte einen Hack, der die Gestaltung von http://www.wikipedia.org auf Meta-Wiki erlaubte und schaltete es ohne große Diskussion vorher live. Das Portal war da. Einige Leute auf der englischen Mailingliste protestierten ein wenig im Nachhinein, weil nun www.wikipedia.org nicht mehr auf en. weiterleitete, der Rest war's zufrieden. Um die Gestaltung wurde anschließend natürlich noch heftig gestritten: Mark Williamson aka node_ue, der heroische Verteidiger der Rechte auch jeder noch so exotischen Sprache, lieferte sich Edit-Wars, bis alle völlig genervt waren und die Diskussionsseite des Portals überfüllt war mit "silly polls" zu den abstrusesten Fragen. Catherine Munroe verschönerte das anfangs recht langweilige Design und ich steuerte noch einen - von Chefentwickler Brion mißtrauisch beäugten - Schnipsel PHP für eine Projektübergreifende Suchbox bei.

Von Wikipedianern und Trollen

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Schon von Anfang an gab es in der Wikipedia nicht nur nette, unkomplizierte Leute, sondern auch einige, die einem gehörig auf die Nerven gehen konnten. Interessant war allerdings die Art des Umgangs mit diesen. Das meiste wurde recht gelassen genommen. Ein Siggi breitete komische Theorien zu Mathematik aus, die revertet wurden, bis er beleidigt abzog. Auch Vergina, der fanatisch für FYROM und wider Mazedonien focht, ließ man spielen und abblitzen (er spielt übrigens heute noch ganz friedlich). Als Cassiel im Artikel Demokratie versuchte, seine Vorstellungen von der direkten Demokratie als der einzig wahren durchzuboxen, klärten ihn Ulrich.fuchs, Katharina und ich über den NPOV in der Wikipedia auf. Bis sich die Diskussion erschöpft hatte und Cassiel wutschnaubend von dannen zog. Seit dieser Zeit ist er zwar nicht mehr in der Wikipedia aktiv, aber doch im Heiseforum stets mit einem "Zensur! Löschadmins" zur Stelle, wenn eine Diskussion über Wikipedia läuft.

In der englischen Wikipedia, der deutschen an Artikel und Benutzerzahl voraus, liefen die Konflikte schon wesentlich härter ab. Eine der kontroversesten Gestalten war und ist User:Lir. Unzählige Male Thema von Sperrdebatten, öfter auch tatsächlich gesperrt, Thema heftiger Flame-Wars auf den Mailinglisten, war er mit all seiner Dickschädeligkeit auch irgendwie fester Bestandteil der Community - und die Schachpartie, die er mit Maveric auf seiner Benutzerseite führte, ist inzwischen legendär (Bei den Wahlen zum Arbitration Committee im Herbst 2004 zog er aber dann doch den kürzeren).

Dass wegen eines einzigen Users mal überlegt wurde, die komplette Stadt Mannheim zu sperren, ist hingegen weniger bekannt. User:Wik - später als Gzornenplatz auch in der deutschen Wikipedia aktiv - sorgte für mindestens ebenso heftige Kontroversen in der Community wie Lir. Auf seiner Benutzerseite führte er Buch über die Seiten, die er täglich revertete oder bei denen er andere bat, zu reverten, wenn er seine täglichen drei Reverts aufgebraucht hatte. Stur konnte er ewig über die altbekannte polnische Frage zanken.

Den Beschluß zur Sperrung, über den sich die Community lange nicht einig war - viele wollten es noch einmal und noch einmal versuchen - machte Wik schließlich einfach: Mit einer Vandalbot-Attacke auf die englische Wikipedia, die die Server-Admins nur mit Notfall-Hacks eindämmen konnten. Anschließend war man sich einig.

Auch in der französischen Wikipedia ging es zeitweise hoch her. Papotages, Anhänger einer Sekte, sorgte hier für heftige Debatten um Neutralität. Nachdem die französische Community über ihn ihren ersten Sperrbeschluß verhängt hatte, durften die Admins zum Dauerreverten und Blocken antreten. Über Wochen hinweg, bis Papotages schließlich aufgab und die Wikipedia verließ. Einige Monate später hörte man noch einmal von ihm, als jemand im Usenet mitteilte, dass Papotages Selbstmord begangen hatte.

Im Sommer und Herbst 2004 war auch für die niederländische Wikipedia die Phase der Unschuld vorbei. Streit folgte auf Streit, ein Admin nach dem anderen trat zurück. Im IRC versuchten Jimbo und ich die Streithähne zu versöhnen, mit wechselndem Erfolg. Beendet wurde das ganze, wie so viele Konflikte in Wikipedia, durch Erschöpfung der Beteiligten. Ganz grün sind sich die Parteien bis heute noch nicht, aber sie sind alle noch mit dabei.

MediaWiki - oder ganz prosaisch Phase III, wie die Wikipedia-Software früher hieß - war nicht immer ganz einfach zu installieren. Mit meiner ersten Mediawiki-Installation kämpfte und fluchte ich. Doku gab es so gut wie gar nicht und gerade als Nicht-Programmierer stand man da wie der Ochs vorm Berg und hatte in der Regel nur zwei Optionen: überwiegend unkommentierten Programmcode lesen oder Entwickler nerven. Mit einer Kombination aus beidem (danke, Brion :-) biß ich mich durch, aber andere sollten es leichter haben. Wozu arbeitet man bei einer Computerzeitung? Bei Eloquence orderte ich einen Vierseiter über Mediawiki, der im Linuxmagazin erschien und die Installation von Mediawiki beschrieb.

Im Chat sprach mich eines Tages Fire an. Der Junge versuchte auf seinem Rechner ein Mediawiki zu installieren. Gemeinsam hangelten wir uns von Problem zu Problem. Ich diktierte Kommandos, Fire tippte. Einen ganzen Abend lang, bis Fire schließlich stolz im Channel sein Wiki mit einer DynDNS-Adresse präsentierte und ich müde ins Bett ging. Als ich am nächsten Morgen den Chat betrat, traf ich einen verzweifelten Fire und eine Runde sehr vergnügter Wikipedianer an: "Kameeeele? seid ihr irre? Ihr könnt aus meinem Wiki doch keine Kamelopedia machen?".

Damit war die Kamelopedia geboren. Von Kamel, Kemal, der Karamellisierung, der Entenationale zum norddeutschen Nebel füllte der Chatmob Fires Wiki mit Nonsenseinträgen. Als der erste Elan abflaute, drohte Fire mit Schließung: er sähe es nicht ein, seinen Rechner die ganze Zeit laufen zu lassen. Die Stromkosten. Und überhaupt. Die Kamelopedia zog daraufhin von Fires DynDNS-Adresse auf JeLufs Server um, der permanent im Netz war. Der sollte sein großzügiges Angebot bald bereuen, als die Kamelopedia ihre erste Denial-of-Service-Attacke erlebte.

Tim Pritlove vom CCC hatte die Wikipedia entdeckt. Im Chat löcherte er alle Leute mit Fragen ("Und habt ihr Datumskonventionen? Wie schreibe ich das?") und bereitete ein Wikipedia-Special fürs Chaosradio vor. Drei Stunden Radio zum Thema Wikipedia, im Chat bombardierten die Leute Tim live mit Vorschlägen und debattierten, wer als nächster im Studio anrufen sollte. Kurt war als Studiogast in Berlin, Paddy erzählte etwas zur tschechischen Wikipedia, ich erklärte dem Moderator, dass ich nicht die Wiki-Mutti bin und was das seltsame Wort wikifizieren bedeutet, und schließlich hatte der Chatmob auch Fire bereitgeschlagen, so dass er anrief und etwas zur Kamelopedia erzählte. Der Moderator hatte die URL noch nicht fertig getippt, als JeLuFs Server vor dem Ansturm der gesammelten Chaosradiohörer in die Knie ging.

Die Ziegenpeter-Affäre

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Manche Edit-Wars sind mit der Zeit zur Legende geworden. An Absurdität bis heute nicht übertroffen ist die Ziegenpeter-Affäre in der deutschen Wikipedia, die im Frühjahr 2004 mit einer harmlosen kleinen Feststellung begann. "Nanu, der Freund von Heidi hieß doch Geißenpeter, nicht Ziegenpeter!" Dann braucht es auch keine Begriffsklärung, sagte sich D und änderte Ziegenpeter in einen Redirect auf die Kinderkrankheit Mumps. Damit hatte er die Rechnung aber ohne den Ersteller der Seite gemacht, der die Änderung instant kommentarlos wieder zurücksetzte. An dieser Stelle mischte ich mich ein (hätte es im Nachhinein vielleicht besser bleiben lassen sollen). Ich war grade auf einem Feldzug gegen unnötige Begriffsklärungsseiten, und da kam mir der Fall gerade Recht. Der Rest der Ereignisse im Zeitraffer: Kilobyte-weise Diskussionen mit Nephelin über den Sinn und Zweck einer Begriffsklärungsseite, den wahren Namen des Geißenpeter, stundenlange Netzrecherchen beider Seiten um zu beweisen, dass der Geißenpeter Ziegenpeter hieß oder auch nicht, im Buch nicht? aber dann wenigstens in der Zeichentrickserie (Necrophorus hat sich hier als aufmerksamer Zuschauer sämtlicher Heidi-Folgen den Orden "Held der Wikipedia" verdient)? über die Präsenz des Begriffs in der öffentlichen Meinung "aber viele Menschen in Deutschland glauben, dass er Ziegenpeter hieß, nicht?" und die linguistischen feinen Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland "aber Geiß heißt doch auf deutsch Ziege", rauchende Köpfe, ein schäumender, sturer Nephelin und eine sture, wütende Elian, das erste Benutzersperrverfahren der deutschen Wikipedia im Wiki, Vandalismus unter IP von Nephelin, unzählige Sockpuppets, eine Reihe von Admins, die mit Dauerblocken und Reverten der unzähligen Sockpuppet-Accounts beschäftigt waren, bis...endlich wieder Ruhe im Wiki einkehrte. zumindest zeitweise.

Die Nebenkriegsschauplätze Koi-Karpfen, OPEC-Navigationsleisten, Historikerstreit u.a. wurden in dieser Erzählung ausgespart.

The black Weekend

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Das Datum des schwarzen Wochenendes weiß ich nicht mehr. Irgendwann im Frühjahr 2004 muss es gewesen sein. An diesem Wochenende überschlugen sich die Ereignisse. Im Chat diskutierten einige über das Wachstum der Community und die damit zunehmende Anonymität im Wiki. Wie sollte man Beiträge überprüfen und bewerten, wenn man so viele der Neulinge gar nicht mehr kennt? Sansculotte und ich hatten die Idee, ein Vertrauensnetz zu starten. Nach einigen Überlegungen stand eine Realisierung, die ohne neue Software-Features auskam, und so legten wir Freitag Nacht gleich los und stellten den ersten Entwurf des Wikipedia:Vertrauensnetz ins Wiki, und ich schrieb eine kleine Ankündigung im Wikipedia:Kurier dazu. *baff* kommentarloser Revert von Triebtäter. Der Beitrag wäre ja wohl nicht neutral und überhaupt hätte das im offiziellen Mitteilungsblatt gar nichts verloren. Neue, die Kritik aufgreifende Fassung von mir. Revert. Edit-War, Seitensperrung. Triebtäter ignoriert die Seitensperrung und revertet munter weiter.

Wir wechseln an dieser Stelle zu einem anderen Kriegsschauplatz, dem Artikel über sexuellen Missbrauch. Dieser befindet sich bereits seit Monaten im Zustand der umstrittenen Neutralität. (Pseudo-)Wissenschaftlich, geduldig und höflich hält die "Pädophilenfraktion" den Artikel in ihrem Besitz und verteidigt ihn gegen die "Kinderschützer". Mit brachialer Wortgewalt moderiert Ulrich.fuchs die Änderungen in dem immer wieder gesperrten Artikel. Die Proteste gegen Ulis nach Ansicht einiger die Pädophilenfraktion begünstigende Moderation steigern sich, bis Mira auf Probleme mit Administratoren einen Desysop-Antrag stellt. Dort habe inzwischen auch ich einen Antrag gegen Triebtäter gestellt wegen der Reverts des inzwischen von Katharina geschützten Kuriers. Die Community schlägt sich die Köpfe ein und zu guterletzt liefern sich Uli und Triebtäter noch einen Delete-Restore-War um unzählige Ortsstubs ("Uli löscht halb Deutschland" war der Ausruf, der durchs Wiki ging). Zweiter Desysopantrag gegen Uli in 24 Stunden auf derselben Seite, während noch um den ersten gestritten wird. Im Chat herrscht Endzeitstimmung, und Sansculotte und ich rufen Anthere als Steward herbei, die Uli, Triebtäter und mir auf gemeinsamen Antrag des Channels temporär den Sysop-Status entzieht. Die Desysop-Anträge ersetzt Henriette durch eine Abstimmung, wie es weiter gehen soll, es folgen noch mehr Debatten. Am Sonntag setzt Sansculotte als letzte Amtshandlung Uli, Triebtäter und mich wieder als Admins ein, bevor er sowohl vom Bürokrat- als auch Adminposten zurücktritt. Uli tritt mit einem langen Text über den Zustand der deutschen Wikipedia ebenfalls zurück und erklärt, das Projekt zu verlassen. Ich trete ohne Kommentar zurück. Triebtäter bleibt Admin.

Soweit das reine Faktengerüst der Abläufe, wie sie mir in Erinnerung sind. Ich habe damals kaum ein Wort über meine Motive für den Rücktritt verloren. Triebtäter und ich hatten beide gegen die Regel, als am Edit-War Beteiligte geschützte Seiten nicht zu bearbeiten, verstossen. Dem Rest der Leute mochte das egal sein, mir war es das nicht. Die Kritik über Adminwillkür gab es schon damals, und das war für mich genau so ein Fall, in dem Regeln zugunsten eines Recht des Stärkeren oder Hartnäckigeren ("wer kann länger reverten") gebrochen wurden. Kurzum: Mit Leuten, die so auf Regeln pfeifen, wollte ich nicht mehr in einer Adminliste stehen. Deshalb der Rücktritt.

Meilensteine

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Meilensteine langweilen mich. Aber über einen sollte man doch ein Wort verlieren, einfach, weil die Situation so besonders war. Wikipedia wurde anfangs komplett von Jimbo finanziert. Solange das nur zwei, drei Server waren, ging das auch gut, doch die Beliebtheit von Wikipedia wuchs. Mit ihr die Zugriffe. Und die Benutzer. Im Dezember 2003, pünktlich an Weihnachten, kam es zum Totalausfall. Zwei der drei Server kaputt. Mit der geschwind ins Leben gerufenen Spendenkampagne kamen innerhalb von 24 Stunden 20.000 Dollar an Spenden zusammen. Doch es war klar, dass Wikipedia eine Organisationsform brauchte. Die Gründung der Wikimedia Foundation ging infolge von Jimbos Abneigung gegen jedwede Art von Bürokratie und Papierkram nur langsam voran.

In der deutschen Community trat am 1. November 2003 ein Schockerlebnis ein: Die Domain www.wikipedia.de war weg. Abgelaufen, Neuregistrierung vergessen und ein Domain-Grabber hatte zugeschlagen. Arne Klempert aka Akl führte die Verhandlungen mit dem neuen Besitzer, zeitgleich liefen die Diskussionen, dass man in Deutschland eine Organisationsform bräuchte: Für genau solche Fälle.

Mit einem schlichten PDF, dem Eintrag ins Register in Florida, wurde schließlich die Foundation gegründet. Die Bylaws der Organisation stießen vor allem bei den deutschen Wikipedianern jedoch auf zum Teil heftige Kritik, hinzu kam noch die unsichere und mißtrauische Haltung von Jimbo gegenüber den deutschen Vereinsplänen. In zahlreichen Mails über den Atlantik versöhnten sich beide Seiten, die deutschen Vereinspläne wurden allerdings erstmal beiseite gelegt und erst im Juni 2004 wieder ausgepackt.

Jimbo war zu einem Vortrag auf der Wizards of Os in Berlin eingeladen, eine bessere Gelegenheit für ein Treffen und zugleich die Vereinsgründung konnte es nicht geben. Akl und Alex verpassten der Satzung einen letzten Schliff, mit einem vom Netlexikon gesponserten Rechtsanwalt beriet sich Kurt zur Vorgehensweise und im Wiki trommelten wir die Wikipedianer aus ganz Deutschland zur Berlinfahrt zusammen.

In Berlin überschlugen sich dann die Ereignisse: Im Wiki endeten gerade die Wahlen für das Foundation Board und die deutsche Wikipedia hatte es darauf angelegt, genau rechtzeitig zur Wikipedia-Party am Samstag in Berlin die 100.000-Artikel-Marke zu erreichen. Das klappte auch - mit einigen kleinen Pannen. Zwei Gruppen fieberten dem hunderttausendsten entgegen und hatten schon jeweils einen Kandidaten rausgepickt: Die zu Hause gebliebenen im IRC und die versammelten Wikipedianer auf der Party, die Jimbo zur Ankündigung einen Laptop in die Hand gedrückt hatten. Und so gab es zwei hunderttausender, einen Edit-War und ein riesiges Kuddelmuddel, bis sich die Geschichte aufklärte.

Planegg und Radevormwald

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Wikipedia in den Medien, das hieß zu Beginn für uns vor allem: Neue Autoren. Jeder Bericht, der über diese erstaunliche freie Enzyklopädie erschien, wurde begeistert begrüßt und wir wunderten uns nur manchmal, wann denn die Medienwelle aufhören würde. Wenn jede Zeitung einmal über Wikipedia berichtet hatte? Was sollten wir uns dann einfallen lassen? Die heftigste Medienaufmerksamkeit erreichte Wikipedia im Februar 2004, als international die 50.000-Artikelmarke gefeiert wurde. Kurt und Akl hatten damals schon freiwillig den Job der Pressesprecher übernommen. Das Echo auf die ausgesandte Pressemitteilung übertraf sämtliche Erwartungen. Während Kurt und Akl von Sat.1, RTL und den Tagesthemen interviewt wurden, riss mich ein Redakteur vom Spiegel aus dem Schlaf.

to be continued...

IRC-Gezwitscher

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Während die Wikipedia wuchs, vermehrten sich auch die Wikipedia-IRC-Channels im Freenode-Netz. In über 40 Channeln wird dort in unzähligen Sprachen rund um die Uhr über Wikipedia und Gott und die Welt diskutiert. Ein Grund, warum es viele dort hinzieht, sind die praktischen Recentchanges-Channel, die die letzten Änderungen in Echtzeit anzeigen und so das stupide Klicken auf Reload im Wiki ersparen. Vor einigen Monaten hatten mein Freund und ich die Idee, wie toll doch das in Klänge umgesetzt wäre: Damit war das Projekt Rcbirds geboren und die folgenden Monate füllte Vogelgezwitscher unser Wohnzimmer, abundzu unterbrochen vom Hahnkrähen eines Troll-Edits. Beim Teetrinken konnte man so der Wikipedia lauschen: leises Bachplätschern signalisierte den steten Fluß der Edits. Wenn Regenprasseln einsetzte oder sich gar zu einem Gewitter steigerte, war es Zeit, an den Rechner zu gehen und zu schauen, wer sich da gerade einen Edit-War lieferte.

Neben ernsthaften Spielen wie dem von Zeit zu Zeit stattfindenden Wissensquiz in #quiz.wikipedia ist auch das "Von-Pontius-zu-Pilatus"-Spiel im IRC sehr beliebt. Die Begriffe Wiki, Wikipedia, Wikimedia und Mediawiki sind nicht leicht auseinanderzuhalten (Standardspruch von Tim Starling dazu: "Wir hätten die Software Kerfuffle nennen sollen") und so platzen regelmäßig nichtsahnende Newbies mit ihrer Frage zur Mediawiki-Installation in #wikimedia und werden dort genauso regelmäßig ein Haus weiter geschickt. Mit dem neu eingerichteten Channel #wikimedia-tech hat sich die Konfusion noch um eins vermehrt: "Aber es geht doch um Server hier... - Ja, aber um unsere."

Die deutsche Channel-Stammbesatzung - informell unter dem Namen Chatmob bekannt - hat es sich gemütlich eingerichtet. IRC-Bot Linky löst Wikipedia-Links automatisch auf und weiß zu vielen Wikipedianern etwas zu erzählen. Paddy ist - wie Fennec international - für die Verteilung der Cloaks, d.h. Host-Masken mit dem Wikipedia-Benutzer und Projektnamen, zuständig.

Kabale und Liebe

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Da ich mir keine Morddrohungen einhandeln will, unterliegt dieses Kapitel einer Sperrfrist von 50 Jahren. Sorry ;-)

Siehe auch: Wikipedia:Wikiliebe, was allerdings etwas substantiell anderes beschreibt...