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ADB:Lechler, Gotthard

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Artikel „Lechler, Gotthard Viktor“ von Christian Theodor Ficker in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Band 51 (1906), S. 609–611, Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=ADB:Lechler,_Gotthard&oldid=- (Version vom 8. November 2024, 22:53 Uhr UTC)
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Lechler: D. Gotthard Viktor L. (1811–1888), wurde als Sohn des Pfarrers Viktor Heinrich Lechler zu Kloster Reichenbach (zum württemb. Oberamt Freudenstadt gehörig) am 18. April 1811 geboren. Bis zu seiner Confirmation vom Vater unterrichtet, ward er im Herbst 1825 in eins der sogen. niederen Seminare nach Blaubeuren gebracht. Im J. 1829 trat er in das theologische Stift zu Tübingen und widmete sich hier zwei Jahre hindurch philosophischen und philologischen Studien. Das eigentliche theologische Studium dauerte von 1831–34. Von den damaligen Professoren waren es besonders Schmid und Steudel, deren Vorlesungen den Studenten anregten. Daneben hörte er mit Interesse Christian Baur und hospitirte zuweilen auch bei dem Katholiken Möhler. Im allgemeinen war es, wie L. später selbst erklärt hat, vorwiegend der scientifische Gesichtspunkt, den er bei seinem eifrigen Streben im Auge hatte. Nach rühmlichst bestandenem Examen erhielt der junge Candidat seine erste Anstellung als Pfarrvicar zu Dettingen unter Teck, wo er nun häufig predigte und auch sonst zu praktischer Thätigkeit, besonders zur Ertheilung des Confirmandenunterrichts Gelegenheit fand. Doch bereits nach Verlauf eines halben Jahres führte ihn eine Berufung von Seiten des Studienraths zurück an die Stätte, wo er selbst seine erste Ausbildung erhalten hatte. Er wurde Repetent am Seminar zu Blaubeuren. War hier seine Hauptaufgabe die Leitung und der Unterricht der Zöglinge, so hatte er daneben auch bestimmte Predigten in einer benachbarten Dorfkirche zu halten. Anfang 1838 kam L. in gleicher Eigenschaft nach Tübingen. Fand er bei der gewissenhaften Ausübung seines Lehramts noch immer Zeit zur Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Studien, so zog besonders die kirchliche Entwicklung Englands seine Aufmerksamkeit auf sich, wie er sich denn schon früher mit der englischen Sprache vertraut gemacht hatte. Ebendadurch wurde in ihm der lebhafte Wunsch rege, jenes Land aus eigner Anschauung kennen zu lernen. Die Erfüllung dieses Wunsches brachte eine im Jahre 1840 unternommene Studienreise, die ihn über die Rheinlande und Belgien nach England und Schottland führte. Von da zurückgekehrt, verweilte er noch drei Monate in Paris. Der Gewinn dieser Reise erstreckte sich nicht nur auf die Erweiterung seiner Kenntnisse, sondern auf sein ganzes inneres Leben. In ersterer Hinsicht kommen als Hauptfrüchte die unten näher bezeichneten Werke in Betracht. Was aber den zweiten Punkt anlangt, so haben die auf jener Reise empfangenen Eindrücke von der Segensmacht eines lebendigen Christenthums einen nachhaltigen Einfluß ausgeübt.

Noch verging eine längere Zeit, ehe es dem Heimgekehrten beschieden [610] war, einer immer wieder auftauchenden Herzensneigung gemäß als theologischer Lehrer zu wirken. Zunächst sollte er in anderer Weise der Kirche seiner schwäbischen Heimath ersprießliche Dienste leisten: zuerst als Helfer (Diakonus) in Waiblingen, wo durch die Vermählung mit Adelheid geb. Hube ein überaus glücklicher Ehestand begründet wurde, dann von 1853–58 als Decan in Knittlingen. An beiden Orten waltete er mit hingebender Treue und gesegnetem Erfolge seine Amtes. Da erging an ihn zu seiner freudigen Ueberraschung ein ehrenvoller Ruf nach Leipzig, wo ihm neben der Verwaltung der mit dem Pfarramte zu St. Thomä verbundenen Superintendentur eine ordentliche Professur an der Universität übertragen ward. So begann nun für den in voller Manneskraft Stehenden erst recht eine Zeit vielseitigen und rastlosen Schaffens. Gesellten sich doch zu den erwähnten Hauptfunctionen noch mehrfache andere, wie die eines Mitglieds der Sächsischen Landessynode und der 1. Ständekammer. Auch in diesen Kreisen erwarb sich L. durch ein ebenso maßvolles wie festes Auftreten die allgemeine Achtung und durfte zum Zustandekommen so mancher wichtigen Beschlüsse wesentlich mit beitragen. – Was seine akademische Thätigkeit anlangt, so war und blieb die Kirchengeschichte mit einzelnen Nebenzweigen, wie z. B. Geschichte des Kirchenlieds, sein Hauptfach. Außerdem las er über Symbolik, Kirchenrecht und Kirchenverfassung, auch über einige neutestamentliche Bücher, wie Apostelgeschichte und Jakobusbrief. Immer beruhte die Behandlung des betr. Gegenstandes auf einer fortgesetzten gründlichen Forschung und Prüfung. Immer war dabei die Rücksicht auf das Bedürfniß der studentischen Zuhörer als späterer Träger des geistlichen Amtes mitbestimmend. Diesem Zwecke entsprach auch die schlichte und verständliche Ausdrucksweise, bei der doch der warme Hauch persönlicher Ueberzeugung nicht fehlte. Alles das wirkte zusammen, um dem verehrten Lehrer namentlich für das kirchengeschichtliche Colleg eine stattliche, gerade in den letzten Jahren immer mehr zunehmende Anzahl dankbarer Schüler zuzuführen. Auch nach andern Seiten hin ist dem vor Gott und Menschen demüthigen Manne gar manche erfreuliche Anerkennung zu Theil geworden. Hatte ihm die theologische Facultät von Göttingen die Doctorwürde verliehen, so wurde er später zum Mitgliede der Münchener Akademie der Wissenschaften ernannt. Das ihm zur zweiten Heimath gewordene Sachsen ehrte ihn durch Titel und Rang eines Geheimen Kirchenraths. Mehrere hohe Orden, u. a. die Comthurkreuze des Sächs. Verdienstordens und des Württemb. Friedrichsordens zierten seine Brust. – Im J. 1883 durfte L., umgeben von sieben Töchtern und drei Schwiegersöhnen, unter großer Theilnahme von nah und fern sein 25jähr. Amtsjubiläum als Pfarrer und Ephorus feiern. Leider nur fehlte dabei die theure Gattin, die bereits zehn Jahre vorher verstorben war. Am Schlusse desselben Jahres legte er sein kirchliches Doppelamt nieder, um fortan nur noch als Docent zu fungiren. Wirklich war es ihm durch Gottes Gnade vergönnt, in voller geistiger Frische seine Vorlesungen bis zehn Tage vor seinem am 26. December 1888 erfolgten Tode zu halten.

Hat die theologische Wissenschaft an dem Heimgegangenen einen tüchtigen Vertreter gehabt und mancherlei bedeutsame Förderung durch ihn erfahren, so verdankt ihm die Kirche lutherischen Bekenntnisses ein kräftiges Eintreten für ihre theuersten Güter und eine segensreiche Mitwirkung bei der Ausbildung ihrer Diener im Geiste evangelischer Wahrheit und Freiheit. Als Hauptwerke von größerem Umfange sind zu nennen: 1. Geschichte des englischen Deismus“, Stuttg. 1841; 2. „Geschichte der Presbyterial- und Synodalverfassung seit der Reformation“, 1854; 3. „Johannes von Wiclif und die Vorgeschichte der Reformation“ in 2 Bdn., Leipzig 1873, ins Englische übersetzt [611] von Lorimer 1878 und Dr. Green 1884. Als Einzelstudie war vorhergegangen: „Johannis de Wiclif tractatus de officio pastorali“, 1863; 4. „Das apostolische und nachapostolische Zeitalter“, 3. Aufl. 1885; 5. „Der Apostel Geschichten“ im Verein mit Gerok exegetisch, dogmatisch und homiletisch bearbeitet, 4. Aufl. 1881. Als kleinere Publicationen sind in Gestalt von Universitätsprogrammen erschienen: „Thomas v. Bradwordina“ 1862; „Robert Grossefeste, Bischof von Lincoln“ 1867; „Der Kirchenstaat und die Opposition gegen den päpstlichen Absolutismus im Anfang des 14. Jahrhunderts“ in 2 Abth. 1877 und 78; „Urkundenfunde des christlichen Alterthums“ in 2 Abth. 1885 und 86. Dazu kommen noch zahlreiche Artikel in den früheren Auflagen der Realencyklopädie und in den von L. mitbegründeten „Beiträgen zur Sächsischen Kirchengeschichte“. Erst nach dem Tode des Verfassers erschien als Nr. 28 der „Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte“ ein Lebensbild von Johannes Hus, in böhmischer Uebersetzung 1891.