16) L. Annaeus Seneca (H. J. Mueller Ausg. VIIf., der Vorname M. ist erst von Raphael von Volterra erfunden), zum Unterschied von seinem gleichnamigen Sohne (Nr. 17) der Rhetor oder der ältere (pater) genannt, stammte aus einer in Corduba ansässigen (Anth. Lat. 409 R. = PLM IV 19 B. Martial I 61, 7) wohlhabenden (Seneca ad Helv. 14, 3) Ritterfamilie (Tac. ann. XIV 53). Da er selbst contr. I praef. 11 erzählt, dass der Bürgerkrieg ihn verhindert habe, Cicero zu hören, so muss er spätestens 54 v. Chr. geboren sein. Er hielt sich zweimal längere Zeit in Rom auf (contr. IV praef. 3) und hörte dort, offenbar um Sachwalter zu werden und sich der Beamtenlaufbahn zu widmen, mit grossem Eifer die berühmtesten Redner und Rhetoren wie Arellius Fuscus (contr. IX 29, 16; suas. II 10 u. ö.), den älteren Passienus (contr. II 13, 17. III praef. 10 u. ö.), Albucius Silus (contr. VII praef. 1f. u. ö.), L. Cestius (suas. VII 13; contr. ΙII praef. 15f. u. ö.), Papirius Fabianus (contr. I praef. 1). Gleichstrebende Freunde von ihm waren der ältere Gallio (suas. III 6; contr. II 1, 33) und Porcius Latro (contr. I praef. 13f. 20f.). Mit seiner Gemahlin Helvia aus einer alten, an streng römischer Sitte festhaltenden Familie, welche er wahrscheinlich erst in späteren Jahren geheiratet hatte, erzeugte er drei Söhne, Novatus (Nr. 12), L. Annaeus Seneca [2238] (Nr. 17) und L. Annaeus Mela (Nr. 11). Er erzog sie in dem ihm eigenen antiquus rigor (contr. I praef. 6. 8f.) und wünschte daher auch nicht, dass seine Gattin und sein Sohn Seneca eingehende philosophische Studien trieben (Seneca ad Helv. 17, 3f.; epist. XVIII 5, 22). Über seine sonstigen Schicksale sind wir auf Vermutungen angewiesen. Da er contr. II praef. 1 seine Lehrzeit als Redner optimam vitae – partem nennt (vgl. I praef. 1), so kann man an ein vielbeschäftigtes Leben etwa als Sachwalter oder wie sein Sohn Mela als kaiserlicher Procurator denken. Contr. II praef. 4 scheint er auf die Anfänge einer ehemaligen Beamtenlaufbahn hinzudeuten. Rhetor kann er kaum gewesen sein, da er kein einziges Beispiel aus einer von ihm selbst verfassten Schulrede erwähnt, die declamatio als rem post me natam bezeichnet (contr. I praef. 12) und die scholasticorum studia ziemlich gering achtet (contr. X praef. 1). Während der Bürgerkriege befand er sich, wohl zur Wahrung seines Besitzes, in Corduba (contr. I praef. 11). Auch scheint er der Partei des Pompeius angehört zu haben, da Corduba meist auf dessen Seite stand (Caes. bell. civ. II 19. 57; bell. Hisp. 2f. 33f. Anth. Lat. 409 E. = PLM IV 19) und noch der jüngere Seneca und Lucan ihre Vorliebe für jenen und ihre Abneigung gegen Caesar offen zur Schau tragen. Auch ist der jüngere Seneca in zweiter Ehe mit einer Pompeia vermählt. Den Freimut des Seneca, zugleich aber auch seine Mässigung zeigt seine Äusserung über die Verbrennung der Schriften des Labienus (contr. X praef. 5f.). Da er die Verbannung seines Sohnes durch Claudius (43 n. Chr.) nicht mehr erlebte (Seneca ad Helv. 2,4f.) und die spätesten historischen Angaben in seinen rhetorischen Schriften (suas. II 22. IIΙ 7) auf die Zeit nach dem Tode des Tiberius hinweisen, so wird er um 39 n. Chr. gestorben sein.
Die schriftstellerische Thätigkeit des S. fällt, ähnlich wie die seines Sohnes, in sein Greisenalter. Selbst, wie es scheint (contr. I praef. 10), veröffentlichte er noch seine oratorum et rhetorum sententiae divisiones colores mit dem Nebentitel für die ersten zehn Bücher controversiarum libri X, eine Sammlung von Behandlungen verschiedener Schulthemen durch die berühmtesten Redner und Rhetoren seiner Zeit, wie sie nur einem Manne mit einem so hervorragenden Gedächtnis wie S. – contr. I praef. 2 erzählt er nicht ohne Selbstbewusstsein, dass er 2000 ihm genannte Namen in derselben Reihenfolge wiederholen konnte – möglich war. Zugleich giebt er eine kurze und verständige, meist recht strenge Kritik und flicht Anekdoten und Witze ein. Jedes Buch ist durch eine interessant geschriebene, an seine drei Söhne gerichtete Vorrede eingeleitet, für deren Gebrauch er das Werk verfasst hatte. Für uns ist es die wichtigste, reichhaltigste Quelle der Geschichte der römischen Beredsamkeit gegen Ausgang der Republik und in der ersten Kaiserzeit. Stilistisch steht S., im Gegensatz zu seinem Sohne, auf dem Standpunkt des Cicero, den er sehr bewundert, während er sich gegenüber der Richtung, welche die Beredsamkeit in seinem Alter eingeschlagen hatte, ablehnend verhält (contr. I praef. 6f.). [2239] Doch zeigt seine eigene Sprache – am wenigsten in den Einleitungen – bisweilen schon den Einfluss der silbernen Latinität. Seinen contr. II 12, 8 ausgesprochenen Plan, an die Controversien noch Suasorien anzuschliessen, führte er aus, trotzdem er in der Vorrede zum zehnten Buch der Controversien (§ 1) gestanden hatte, dass die Ausarbeitung ihm zuletzt Widerwillen bereite. Es sind nur sieben Stücke in einem Buch; auch machen sie durch ihre etwas dürre Behandlung und das Fehlen der Vorrede den Eindruck, als ob der Verfasser sie nicht selbst hätte herausgeben können. Das Gesamtwerk ist uns nicht vollständig erhalten, sondern von den Controversien unverkürzt nur Buch I. II. VI. IX. X durch die im 10. Jhdt. geschriebenen besten Hss., B(ruxellensis 9581), A(ntverpiensis 411), V(aticanus 3872): Aus allen Büchern wurde im 4.–5. Jhdt. n. Chr. ein ziemlich ungeschickter Auszug gemacht, welcher am besten im M(ontepessulanus 126, 9.–10. Jhdt.) überliefert ist.
Umfangreicher und bedeutender war ein verlorenes geschichtliches Werk, welches S. gleichfalls in seinem Alter verfasste, das ihm selbst aber nicht mehr vergönnt war herauszugeben. Etwas Näheres wissen wir von ihm seit der Auffindung des Anfanges der Schrift des jüngeren S. de vita patris durch B. G. Niebuhr im codex Vaticanus Palatinus 24 (s. Studemund bei O. Rossbach De Senecae recensione et emendatione XXXIf.), woraus sich ergiebt, dass das Werk die römische Geschichte vom Anfang der Bürgerkriege beinahe bis zum Tode des S. behandelte und dass sein Sohn beabsichtigte es herauszugeben. Dass dies wirklich geschehen ist, könnte man schon wegen der Schreibfertigkeit des jüngeren S. annehmen, es wird aber durch zwei bei Suet. Tib. 73 und bei Lact. inst. div. VII 15, 14 unter dem Namen des S. überlieferte Bruchstücke geschichtlichen Inhaltes bestätigt. Sie können nicht von dem Philosophen herrühren, da Quintilian inst. orat. X 1, 158 in seinem Verzeichnis der Schriften desselben nichts von einem geschichtlichen Werke sagt. Einem so gelehrten Kirchenvater wie Lactanz darf man ferner eine Verwechslung des S. mit Florus, wie sie Saumaise annimmt, nicht zutrauen; auch zeigt das Bruchstück bei Lactanz nicht unbedeutende Abweichungen von Florus. Als Titel ergiebt sich aus den Worten des Sohnes in de vita patris: historiae ab initio bellorum civilium. Der Ausgangspunkt des von Florus excerpierten und von Lucan und dem jüngeren S. (vgl. auch nat. quaest. I 16, 1f.; epist. VIII 1, 10) benützten Werkes waren die gracchischen Unruhen (O. Rossbach De Senecae rec. et emend. 161f.; vgl. Lact. div. inst. ed. S. Brandt CXIf. 633. Gercke DLZ 1888, 1007. H. Kraffert Neue philol. Rundschau 1888, 360).
Das ganze Mittelalter hindurch schrieb man die Werke des älteren S. dessen Sohne zu und noch in den ersten gedruckten Ausgaben, wie den zu Venedig 1490 und 1492 erschienenen, sind sie nicht von dessen Schriften getrennt. Erst Raphael v. Volterra nahm die Scheidung vor. Von älteren Ausgaben sind die von N. Faber (Paris 1587. 1598), A. Schott (Paris 1607. 1613), J. F. Gronov (Leiden 1649 und Amsterdam 1672 [2240] als dritter Band zugleich mit den Schriften des Sohnes) zu erwähnen. Eine kritische Behandlung auf Grundlage der Hss. begann durch C. Bursians Ausgabe (Leipzig 1857) und wurde weiter geführt durch A. Kiessling (Leipzig 1872) und H. J. Müller (Prag 1887), doch ist der Text der letzteren durch die Aufnahme vieler unnötigen Vermutungen entstellt. Über das Leben des S. und seine Schriften s. ausser der bereits erwähnten Litteratur Teuffel-Schwabe R. L.-G⁵ 644f. M. Schanz R. L.-G. II 198f. und Bursian a. a. O. Vf.