Forschungsreaktor Geesthacht

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Forschungsreaktor Geesthacht (rechts) neben dem Kernkraftwerk Krümmel (links)

Der Forschungsreaktor Geesthacht (FRG-1) auf dem Gelände des GKSS-Forschungszentrums in Geesthacht ist mit einer Nennleistung von fünf Megawatt (MW) einer der vier großen Forschungsreaktoren in Deutschland. Die produzierten Neutronen werden ausschließlich für die Grundlagenforschung in den Materialwissenschaften und der Medizin verwendet. Der an der Elbe gelegene Forschungsreaktor ist seit Juli 2000 der älteste laufende Kernreaktor Deutschlands. Er soll im Jahr 2010 stillgelegt werden.[1]

Geschichte

Forschungsschiff Otto Hahn im Jahr 1970

Nach der Gründung des GKSS-Forschungszentrums (damals noch Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt mbH) im Jahr 1956 wurde der Forschungsreaktor FRG-1 zusammen mit den zugehörigen technischen Einrichtungen in nur 18-monatiger Bauzeit fertiggestellt. Der Reaktor wurde am 23. Oktober 1958 als dritter großer Kernreaktor (mit einer Leistung über 50 kW) Deutschlands nach den Forschungreaktoren München (FRM) und Rossendorf (RFR) in Betrieb genommen.

Am 15. März 1963 nahm ein zweiter Reaktor (FRG-2) seinen Betrieb auf, der mit einer maximalen thermischen Leistung von 15 MW bis zu seiner Abschaltung am 1. Juni 1993 ebenfalls als Neutronenquelle für Materialtests diente. An diesem Forschungsreaktor wurden zudem Untersuchungen zur Sicherheit von Kernanlagen durchgeführt. Beide Reaktoren wurden seit ihrer Inbetriebnahme den gestiegenen Sicherheitsanforderungen, dem aktuellen Stand der Wissenschaft und Technik sowie neuen Forschungszielen angepasst.

Erstes konkretes Ergebnis der Forschungen war der Nuklearantrieb für das Forschungsschiff Otto Hahn, das am 13. Juni 1964 vom Stapel lief und am 11. Oktober 1968 seine erste Probefahrt absolvierte. Letztendlich entschied man sich für einen fortschrittlichen Druckwasserreaktor (FDR) als Antrieb. Der atomare Antrieb des Frachtschiffes wurde am 22. März 1979 nach insgesamt 650.000 Seemeilen stillgelegt, das Schiff wurde daraufhin umgebaut und fährt mit einem konventionellem Diesel-Antrieb noch heute.[2] In den siebziger Jahren wurden zwei weitere Schiffe mit Namen "Nukleares Container-Schiff" (NCS 80 und NCS 240) zwar geplant, aber nie gebaut, da sich kein Reeder fand, der trotz staatlicher Förderung ein solches Schiff in Auftrag geben wollte.[3]

Im Februar 1991 wurde der Forschungsreaktor FRG-1 als erster Kernreaktor Deutschlands von hochangereichertem Uran (93%) auf schwachangereichertes Uran (20%) umgestellt. Zudem wurde der Reaktorkern verkleinert, um den Neutronenfluss zu erhöhen. In den letzten Jahren stand der Forschungsreaktor FRG-1 etwa 250 Tage jährlich den Wissenschaftlern zur Verfügung. Zu Beginn eines jeden Jahres wird der Reaktor etwa sechs Wochen für Sicherheitsüberprüfungen und Anpassungen abgeschaltet.

Zum fünfzigsten Jahrestag der Inbetriebnahme beschlossen die Betreibergesellschafter aus Bund und Ländern am 23. Oktober 2008, den Reaktor in zwei Jahren stillzulegen. Der Rückbau der Anlage wird voraussichtlich zehn Jahre dauern.[4]

Aufbau

Der Forschungsreaktor FRG-1 ist ein Materialtestreaktor vom Typ Schwimmbadreaktor. In der Mitte der 33 × 16 m großen Reaktorhalle befindet sich ein nach oben offenes Reaktorbecken, der Reaktorkern hängt in etwa sieben Metern Wassertiefe und ist an einer Brücke, die das Becken überspannt, aufgehängt. Die Beckenwand besteht im unteren Teil aus einer 180 cm dicken Schwerbetonschicht mit einer Dichte von 3,5 g/cm3, einer 60 cm dicken Schicht aus normalem Beton (Dichte 2,3 g/cm3) und einer dazwischen liegenden 0,5 cm dicken Stahlwanne.

Die Kühlung des Reaktors erfolgt über zwei voneinander getrennte Kühlkreisläufe, den Primärkreislauf zur direkten Wärmeabfuhr aus dem Reaktorkern und den Sekundärkreislauf zur Wärmeabgabe an die Umgebung über einen Kühlturm. Die beiden Kühlkreisläufe sind über einen Plattenwärmeaustauscher voneinander getrennt. Das Betriebsbecken des Primärkreislaufs hat ein Volumen von 140 m3, wobei sich das Wasser von etwa 40 °C beim Eintritt in das Wasserbecken auf etwa 46 °C beim Austritt aus dem Reaktorkern erwärmt. Die Wasserdurchflussmenge beträgt rund 740 m3 pro Stunde.

Der Forschungsreaktor verwendet heute schwachangereichertes U3Si2 als Kernbrennstoff, wobei acht Brennelemente und vier Kontrollbrennelemente im Einsatz sind. Jedes Brennelement enthält 410 Gramm Uran-235, welches in 23 einzelne Brennstoffplatten eingebunden ist, jedes Kontrollelement 320 Gramm Uran-235 in 17 Brennstoffplatten. Als Absorbermaterial wird Hafnium, als Kühlmittel und Moderator vollentsalztes Wasser eingesetzt. Bei voller Leistung werden pro Tag rund sechs Gramm Uran-235 verbraucht, von denen etwa fünf Gramm gespalten werden und ein Gramm in Uran-236 übergeht.

Die erzeugten Neutronen gelangen durch neun Strahlrohre in die angrenzende Versuchshalle, wo sie an den Experimentiereinrichtungen zur Verfügung stehen. Zur Bündelung der Neutronen werden Beryllium-Reflektoren verwendet. Der ungestörte Neutronenfluss beträgt 1,4 × 1014 n/cm2 s. Darüber hinaus existieren mehrere Positionen unmittelbar am Reaktorkern für Probenbestrahlungen.

Experimentiereinrichtungen

Am Forschungsreaktor sind zur Zeit folgende Experimentiereinrichtungen aufgebaut:

Name Beschreibung
GENRA-3 Neutronenradiographie und -tomographie zur zerstörungsfreien Durchstrahlung von Bauteilen zum Auffinden von Materialfehlern
INAA Neutronenaktivierungsanalyse zur Bestimmung der chemischen Zusammensetzung von Proben
TEX-2 Diffraktometer zur Analyse von Texturen und kristallinen Bereichen z.B. in Gesteinsproben
NeRo / PNR Neutronenreflektometrie zur Untersuchung von dünnen Schichten (1-100 nm) in Kunststoffen und metallischen Werkstoffen
SANS-1 / SANS-2 / DCD Neutronenkleinwinkelstreuung zur Untersuchung von Defekten und Phasenübergängen in Festkörpern und von Strukturen und kinetischen Phänomenen in Flüssigkeiten und Polymeren
FSS / ARES-2 Diffraktometer zur Eigenspannungsanalyse zur zerstörungsfreien Untersuchung von Eigenspannungen im Inneren von Werkstoffen und Bauteilen
GBET Bestrahlungseinrichtung zur Grundlagenforschung in der Bor-Einfang-Therapie zur Bekämpfung von Tumorzellen
Rödi Röntgendiffraktometer für zusätzliche Röntgenanalysen von Phasen, Eigenspannungen und Texturen sowie Reflektometrie-Untersuchungen
HOLONS Holographie und Neutronenstreuung für simultane Untersuchungen mit Laserstrahlen und Neutronen an holographischen Gittern
POLDI Diffraktometer für polarisierte Neutronen zur Untersuchung magnetischer Materialien

Reaktorüberwachung

Umgebung

Die Umgebung des Forschungsreaktors wird in einem Umkreis von 25 km kontinuierlich auf eventuelle Belastung von radioaktiven Stoffen durch 50 Messstellen überwacht. Zusätzlich werden regelmäßig Boden-, Pflanzen- und Wasserproben entnommen. Die direkte Strahlenbelastung durch den Forschungsreaktor ist in der Umgebung der Anlage so gering, dass sie innerhalb der Schwankungen der natürlichen Strahlungsbelastung nicht nachgewiesen werden kann.

Anlage

Die Anlage wird insbesondere auf die Abgabe radioaktiver Stoffe in der Fortluft und dem Abwasser überwacht. Zudem wird die Personendosis, d.h. die Höhe der radioaktiven Strahlenbelastung jedes Mitarbeiters, gemessen. Die mittlere jährliche Strahlenbelastung liegt dabei mit einem Millisievert (mSv) weit unter der nach der Strahlenschutzverordnung maximal zulässigen Belastung von 50 mSv. Materialien, die durch die betriebliche Nutzung radioaktiv belastet sein können, werden auf ihre Aktivierung und Kontaminierung überprüft, bei schwacher und mittlerer Strahlung aussortiert und in Fässern bis zur Endlagerung aufbewahrt. Die Brennelemente sind nach einem Jahr Einsatz verbraucht und werden bis zu ihrer Endlagerung in den USA in einem Wasserbecken gelagert.

Vorwürfe

Lage des Forschungsreaktors Geesthacht (GKSS) neben dem Kernkraftwerk Krümmel (KKK) gegenüber den Elbmarschen

Die beiden Forschungsreaktoren FRG-1 und FRG-2 werden zusammen mit dem Kernkraftwerk Krümmel oft als Ursache für die signifikante Häufung von Leukämieerkrankungen bei Kindern im Leukämiecluster Elbmarsch zitiert.[5] Mehrere Untersuchungen konnten aber bisher keine Hinweise dafür liefern, dass eine der Anlagen die Ursache für die Krankheitsfälle sein könnte.[4] Im Jahr 2007 stellten Wissenschaftler der University of South Carolina durch eine Analyse von 17 Studien aus sieben Ländern fest, dass sich die Blutkrebsrate bei Kindern mit zunehmender Nähe zu Atomkraftwerken statistisch signifikant erhöht. Die genauen Ursachen für den möglichen Einfluss von Kernkraftwerken auf die Leukämiegefahr sind aber bis heute nicht geklärt.[6]

Am 12. September 1986 soll bei einem Brand auf dem Gelände des GKSS-Forschungszentrums, der von mehreren Augenzeugen beobachtet wurde, radioaktive Strahlung freigesetzt worden sein. Der damalige Staatssekretär der Landesregierung Schleswig-Holstein Wilfried Vogt (Die Grünen), der daraufhin das Gelände inspizierte, gelangte aber zu der Überzeugung, dass dort kein Unfall stattgefunden habe. Die Einsatzprotokolle der örtlichen Feuerwehr, die genauere Informationen über einen Brandvorfall enthalten hätten können, wurden durch ein Feuer im September 1991 in deren Archiv zerstört.

Eine aus neun Wissenschaftlern bestehende Kommission, die im Auftrag der schleswig-holsteinischen Landesregierung zwischen 1992 und 2004 die Leukämiefälle untersuchte, fand in der Umgebung der beiden kerntechnischen Anlagen millimetergroße Keramikkügelchen, die Uran, Plutonium, Americium und Curium enthielten (sogenannte PAC-Kügelchen). Solche Kügelchen wurden unter anderem als Kugelbrennelemente im Kernkraftwerk THTR-300 in Hamm-Uentrop als Neutronenquellen verwendet. Es wurde vermutet, dass die PAC-Kügelchen bei dem Brand 1986 freigesetzt wurden, was aber vom GKSS-Forschungszentrum und der Landesregierung umgehend bestritten wurde.[7] Bislang fehlen Belege, dass die PAC-Kügelchen aus einer der beiden Anlagen stammen, beziehungsweise dass es sich überhaupt um Kernbrennstoffpartikel handelt.[8]

Der atompolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen des niedersächsischen Landtags Andreas Meihsies und der Physiker Wolfgang Neumann nahmen im September 2007 Einblick in das Archiv des GKSS-Forschungszentrums. Dabei konnten sie keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen einem angeblichen Störfall bei der GKSS und den Leukämiefällen feststellen.[9]

Quellen

  1. Forschungsreaktor Geesthacht wird stillgelegt, Hamburger Abendblatt vom 24. Oktober 2008
  2. Otto Hahn (Forschungsschiff), Stadt-Lexikon Geesthacht
  3. Informationen zum Containerschiff NCS-80, Bundesarchiv
  4. a b Atomkraftwerk wird abgeschaltet, taz vom 24. Oktober 2008
  5. Vertuschter Atomunfall/SuperGAU in der BRD von Detlef zum Winkel, Konkret Heft 12/2004
  6. Erhöhte Leukämiegefahr um Kernkraftwerke, Focus vom 20. Juli 2007
  7. Die Spaltung, Die Zeit vom 25. November 2004
  8. Labor bestreitet verbotene Atom-Experimente, Süddeutsche Zeitung vom 2. November 2004
  9. GRÜNE nach Aktenansicht bei der GKSS, Pressemitteilung von Bündnis 90/Die Grünen im Niedersächsischen Landtag vom 18. September 2007

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