Essentielle Hypertonie

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Klassifikation nach ICD-10
I10.– Essentielle (primäre) Hypertonie
F45.30[1] Psychogene Hypertonie

Somatoforme autonome Funktionsstörung
des Herz und Kreislaufsystems

F54 + I10.-[2] Psychologische und Verhaltensfaktoren bei essentieller Hypertonie
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ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Der essentielle Bluthochdruck oder die essentielle arterielle Hypertonie (auch primäre Hypertonie und genuine Hypertonie genannt[3]) stellt eines der vielfältigen funktionellen Syndrome dar, die dadurch charakterisiert sind, dass trotz umfassender Diagnostik im Sinne der Ausschlussdiagnose hier zunächst kein anatomisch oder endokrinologisch relevanter Organbefund (ätiologisch) zu erheben ist.[4][5] Daraus wird gefolgert, dass keine durch körperliche Befunde verursachte Primärerkrankung zugrunde liegt.[6][7](a) Der essentielle Bluthochdruck ist also der, für den der Arzt keine Erklärung hat. Damit wird definitionsgemäß die erste Gruppe der arteriellen Hypertonie, die primäre Hypertonie nach der ätiologischen Krankheitseinteilung vorausgesetzt. – Die essentielle Hypertonie, ein Begriff, den der Breslauer Arzt Erich Frank 1911[8] für die arterielle Blutdrucksteigerung unbekannter Ursache[9] eingeführt hatte, zählt zu den 7 klassischen Psychosomatosen (Holy Seven).[7](b)

Werden körperliche Befunde ohne sichere pathogenetische Verursachung gefunden oder vermutet wie etwa genetische Faktoren, so ist zu verweisen auf → Arterielle Hypertonie, Abschnitt Primäre Hypertonie.

Zunächst ist das einzige Symptom der erhöhte Blutdruck. Eher körperlich empfundene und objektivierbare Symptome sind von eher psychisch bedingten Symptomen zu unterscheiden. Unter den körperlichen Symptomen wurde im Jahr 2004 erhöhter Blutdruck bei Menschen schon ab Blutdruckwerten von 120 / 80 mmHg anzunehmen. Werte bis 130 / 85 mmHg werden bereits als hochnormal angesehen.[10](a) Nach Empfehlungen der WHO aus dem Jahr 2003 ist eine Hypertonie anzunehmen, wenn Werte von mindestens systolisch 140 mmHg und diastolisch 90 mmHg bei mehrfachen Messungen über längere Zeit erreicht werden.[7](c) Nur zum Teil treten bei den subjektiv beschwerdefreien Betroffenen auch Kopfschmerzen, Ohrensausen und rote Gesichtsfarbe oder Nasenbluten auf. Dies ist der Grund, warum zwei Drittel aller an hohem Blutdruck leidenden Erwachsenen im deutschsprachigen Raum von ihrer Erkrankung nichts wissen oder nicht ausreichend behandelt werden.[10](b) Weitere weniger häufige Symptome sind Angina pectoris, verstärktes Herzklopfen, Belastungsdyspnoe und Ruhedyspnoe. Jugendliche klagen häufig über funktionelle Beschwerden wie Schwitzen, Frieren, kalte Hände und Füße, Schlafstörungen sowie unbestimmte Druck- und Schmerzgefühle in der Herzgegend. An psychischen Symptomen ist oft eine leichte Erregbarkeit feststellbar, siehe Kap. Psychodynamik.[7](d)

Epidemiologie und Risikofaktoren

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Die Bedeutung der essentiellen Hypertonie kann epidemiologisch daran gemessen werden, dass über 90 %[6] aller Fälle mit Bluthochdruck als essentielle Hypertonien zu bezeichnen sind. In Deutschland gibt es 20 Millionen Menschen, die an Bluthochdruck leiden. Er stellt einen der wichtigsten Risikofaktoren für Arteriosklerose, Herzinfarkt und Schlaganfall dar. Heute sterben in den westlichen Industrienationen mehr Menschen an Herzinfarkt und Schlaganfall als an allen Krebsarten und AIDS zusammen.[10](c)

Die Ursache für essentielle Hypertonie wird in einer Kombination aus den Faktoren genetische Vorbelastung (in 60 % der Fälle wird eine essentielle Hypertonie vererbt), Kochsalzsensitivität (d. h. bereits bei normalem Kochsalzkonsum wird eine Hypertonie entwickelt), falscher Ernährung (insbesondere Adipositas) und Hyperaktivität des Sympathikus (z. B. bei chronischem Stress) gesehen.[6]

Die Bedeutung psychosomatischer Erkrankungen für Bluthochdruck ist komplex und wird bis heute beforscht. So wurde ein positiver Zusammenhang von Bluthochdruck und Angsterkrankungen gefunden.[11] Für Depressionen gibt es widersprüchliche Befunde, aber eine Meta-Analyse ergab 2012 eine Erhöhung der Inzidenzrate von Bluthochdruck unter Depressionspatienten.[12]

Ein zusätzliches Risiko für einige Folgeerkrankungen besteht, wenn der essentielle Bluthochdruck nicht mit einem nächtlichen Blutdruckabfall um 10–20 % verbunden ist (Non-Dipping).[13]

Bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden psychosomatische Auswirkungen auf den Blutdruck untersucht (vgl. Franz Alexanders Holy Seven 1950), mit Bestrebungen, den Blutdruck durch Psychotherapie zu beeinflussen.[14] Verschiedene Studien haben seither Blutdrucksenkungen durch Psychotherapie gefunden,[15] in einer kasachischen Studie von 2014 wurde Psychotherapie bei Bluthochdruck sogar als ökonomisch vorteilhaft beurteilt.[16]

Zwei Hauptgründe für die Wirksamkeit von Psychotherapie werden genannt: Da Ängste bzw. Angsterkrankungen Studien zufolge (siehe oben) den Blutdruck erhöhen, sollte Psychotherapie ihn senken können, soweit sie – sogar einfach durch stützende Verfahren – die Ängste verringert. Zum anderen argumentieren Psychoanalytiker wie Franz Alexander, Carl Binger oder Helen Flanders Dunbar, Menschen mit Bluthochdruck könnten mit aggressiven und feindseligen Impulsen nicht umgehen; nach dieser Lehrmeinung können psychodynamische Therapien Bluthochdruckpatienten bei der Bearbeitung der entsprechenden Konflikte unterstützen und darüber eine Blutdrucksenkung erreichen.[17]

Die Psychodynamik der funktionellen Entstehungsbedingungen ist von Franz Alexander untersucht worden, der sich ausführlich mit vegetativen Krankheitsursachen befasst hat und den Begriff der vegetativen Neurose geprägt hat.[18] Nach ihm sind folgende Faktoren bedeutsam:

  • Abwehr von Abhängigkeitswünschen
  • Vermeidung einer inneren aggressiven Handlungsbereitschaft nach außen hin bei leichter Erregbarkeit
  • der innere Konflikt zwischen ambivalenten Beziehungstendenzen (Problem der sogenannten Pseudounabhängigkeit)

Hypertoniker werden in ihrer Persönlichkeit als leistungsbetont, pflichtbewusst und gesellschaftlich überangepasst beschrieben mit hohem Anspruchsniveau an sich selbst. Entwicklungspsychologisch sind Beziehungen zur analen Phase hergestellt worden. Essentielle Hypertonie wird von der Psychosomatik in die Gruppe der Organkrankheiten mit psychosozialer Komponente eingereiht (Bereitstellungskrankheit).[7](e) Experimentelle Untersuchungen belegen die Bedeutung emotioneller Faktoren bei fixiertem essentiellem Hochdruck.[19]

Nach psychodynamischer Lehrmeinung ist eine Psychotherapie bei entsprechendem Konfliktbewusstsein angezeigt, ggf. in Kombination mit antihypertensiver Medikation.[20]

Einzelnachweise

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  1. Hans Morschitzky: Psychotherapie Ratgeber: Ein Wegweiser zur seelischen Gesundheit. Springer-Verlag, 2007, ISBN 978-3-211-33616-8, S. 86 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. Sybille Disse: Paukbuch Heilpraktiker Psychotherapie: Effektive Vorbereitung für Prüfung & Praxis. epubli, 2013, ISBN 978-3-8442-4915-6, S. 41 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. Herbert Reindell, Helmut Klepzig: Krankheiten des Herzens und der Gefäße. In: Ludwig Heilmeyer (Hrsg.): Lehrbuch der Inneren Medizin. Springer-Verlag, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1955; 2. Auflage ebenda 1961, S. 450–598, hier: S. 580–584 (Die essentielle Hypertonie).
  4. NVL Hypertonie, Version 1.0, 2023 der Nationalen VersorgungsLeitlinie – getragen von Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztlicher Bundesvereinigung (KBV) und Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). Abgerufen am 24. Mai 2024.
  5. Felix Mahfoud, Reinhold Kreutz et al. Pocket-Leitlinie: Management der arteriellen Hypertonie (Version 2018). Literaturnachweis: Deutsche Gesellschaft für Kardiologie (DGK) – Herz- und Kreislaufforschung e.V. (2019)/Deutsche Hochdruckliga e.V. (DHL), ESC/ESH Pocket Guidelines. Management der arteriellen Hypertonie, Version 2018. Börm Bruckmeier Verlag GmbH, Grünwald, (PDF 4,53 MB) – Kurzfassung der „2018 ESC/ESH Guidelines on the management of arterial hypertension“ (European Heart Journal; 2018 – doi:10.1093/ eurheartj/ehy339), ISBN 978-3-89862-986-7. Abgerufen am 2. April 2024
  6. a b c Jan Steffel, Thomas F. Lüscher: Herz-Kreislauf. Springer Verlag, 2011, ISBN 978-3-642-16717-1, S. 30.
  7. a b c d e Sven Olaf Hoffmann, G. Hochapfel: Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin. CompactLehrbuch. 6. Auflage. Schattauer, Stuttgart 2003, ISBN 3-7945-1960-4;
    (a) S. 311 zu Stw. „Diagnosis per exclusionem“;
    (b) S. 304 zu Stw. „Holy Seven“;
    (c) S. 311 zu Stw. „Normwert RR nach WHO“;
    (d) S. 312 zu Stw.„Weitere Symptome“;
    (e) S. 40, 218, 312 ff zu Stw. „Psychodynamik“.
  8. Horst Kremling: Zur Entwicklung der klinischen Diagnostik. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 23, 2004, S. 233–261, hier: S. 252.
  9. Paul Diepgen, Heinz Goerke: Aschoff/Diepgen/Goerke: Kurze Übersichtstabelle zur Geschichte der Medizin. 7., neubearbeitete Auflage. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1960, S. 59.
  10. a b c Peter W. Gündling: Brennpunkt Herz. Natürlich vorbeugen und heilen bei Herz-Kreislauf-Problemen. 1. Auflage. Aurelia-Verlag, Baden-Baden 2004, ISBN 3-936676-14-3; alle Stellen zu Stw. „Bluthochdruck“, S. 12, 19, 88–96; zitierter Text:
    (a) S. 89 zu Stw. „Normwert RR“;
    (b) S. 88 zu Stw. „Häufigkeit unerkannter Fälle“;
    (c) S. 88 zu Stw. „Epidemiologie und Risikofaktoren“.
  11. M. S. Player, L. E. Peterson: Anxiety disorders, hypertension, and cardiovascular risk: a review. In: International journal of psychiatry in medicine. Band 41, Nummer 4, 2011, ISSN 0091-2174, S. 365–377, PMID 22238841 (Review).
  12. L. Meng, D. Chen, Y. Yang, Y. Zheng, R. Hui: Depression increases the risk of hypertension incidence: a meta-analysis of prospective cohort studies. In: Journal of hypertension. Band 30, Nummer 5, Mai 2012, ISSN 1473-5598, S. 842–851, doi:10.1097/HJH.0b013e32835080b7, PMID 22343537 (Review).
  13. Routledge, F. S.; McFetridge-Durdle, J. A.; Dean, C.R. (2007) Night-time blood pressure patterns and target organ damage: A review. Canadian Journal of Cardiology 23(2):132–138.
  14. Stanley Cobb, Henry H. W. Miles: Psychotherapy of a psychosomatic illness: Essential hypertension. In: The American Journal of Medicine. 11, 1951, S. 381–386, doi:10.1016/0002-9343(51)90172-6.
  15. Wolfgang Linden: Psychological Perspectives of Essential Hypertension: Etiology, Maintenance, and Treatment. Karger Medical and Scientific Publishers, 1984. insb. S. 6, mit Follow-up nach bis zu 24 Monaten
    Alvin P. Shapiro: Hypertension and Stress: A Unified Concept. Psychology Press, 1996, S. 68.
    Gene L Stainbrook, John W Hoffman, Herbert Benson: Behavioral therapies of hypertension: psychotherapy, biofeedback, and relaxation/meditation. In: Applied Psychology. 32, 1983, S. 119–135, doi:10.1111/j.1464-0597.1983.tb00899.x.
    gemäß Abstrakt z. B. auch für den russischen Raum in der folgenden Studie mit Follow-up nach 6 Monaten: M. V. Golubev, T. A. Aĭvazian, V. P. Zaĭtsev: [The efficacy of psychotherapy with biofeedback in the rehabilitation of hypertension patients]. In: Voprosy kurortologii, fizioterapii, i lechebno? fizichesko? kultury. Nummer 6, 1998 Nov-Dec, ISSN 0042-8787, S. 16–18, PMID 9987969.
  16. Zhanna Kalmatayeva, Ainur Zholamanova: Cost-effectiveness analysis of psychotherapy in treatment of essential hypertension in primary care. (Memento des Originals vom 3. Februar 2015 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.archivespp.pl In: Archives of Psychiatry and Psychotherapy. 2014; 4, S. 57–64.
  17. Alvin P. Shapiro: Hypertension and Stress: A Unified Concept. Psychology Press, 1996, S. 68.
    zu Dunbar siehe insb.: Carl Alfred Lanning Binger, Nathan Ward Ackerman, Alfred Elustein Cohn, Henry Alfred Schroeder, John Murray Stecie: Personality in arterial hypertension. In: Psychomatic Medicine Monograph. 1945.
  18. Franz Alexander: Psychosomatic medicine. Its principles and applications. Norton, New York 1950, DNB 993025870. deutsch: Psychosomatische Medizin. Grundlagen und Anwendungsgebiete. De Gruyter, Berlin 1951, DNB 450046567.
  19. J. Schunk: Emotionelle Faktoren in der Pathogenese der essentiellen Hypertonie. In: Zeitschrift für klinische Medizin. (1953); 152, S. 251.
  20. Sven Olaf Hoffmann, G. Hochapfel: Neurosenlehre, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin. 6. Auflage. CompactLehrbuch, Schattauer, Stuttgart 2003, ISBN 3-7945-1960-4, S. 315.